Schock 6.4

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Die kahlen grauen Wände des Rings waren deprimierend. In der Zitadelle durchbrachen wenigstens vereinzelte Werbetafeln oder gestrichene Wohnungsfassaden die Monotonie. Die einzige Farbe, die wir hier ab und zu zu sehen bekamen, war die des getrockneten Blutes all jener, die sich zur falschen Zeit am falschen Ort aufgehalten hatten.

Einige Datenkabel waren in den Wänden verlegt, so konnte Cass etwa auf Überwachungskameras im Ring zugreifen. Alles, was sie an der Oberfläche verlegt hatten, war schon lange geplündert worden. Auch Schnittstellen zum Netzwerk und die Nahrungssynths befanden sich alle in Bereichen, die von Gruppierungen und Banden kontrolliert wurden. Wenn sie mit jemandem reden oder etwas essen wollte, musste sie laufen. Deswegen liefen auch wir jetzt.

Wir kamen vor einem großen Tor zum Stehen, das sich nicht automatisch öffnete, als wir darauf zugingen. Unsere Führerin runzelte die Stirn. "Mann, irgendjemand muss den Gang für sich in Anspruch genommen haben und einen Tek in der Gruppe haben, der das Tor blockiert hat. Wir müssen einen Umweg gehen."

"Können wir die Sperre nicht umgehen?", fragte ich.

"Siehst du irgendwo ein Zugangsterminal für das Tor?", stellte sie in besserwisserischem Ton ihre Gegenfrage.

"Brauch ich nicht. Falls ich das Tor nicht aufbekomme, haben wir immer noch Sergej. Der hat Erfahrung darin, Tore zu Kleinholz zu verarbeiten."

Sergej grinste und spannte demonstrativ die Muskeln an, während ich auf das Tor zuging.

"Na, da bin ich mal gespannt. Brutus, halt uns den Rücken frei, solange die Opas hier ihr Glück versuchen."

Ihr Leibwächter drehte sich zum Gang hin und ich widmete mich dem Tor. Ich tauchte in das Steuerungsnetzwerk ein und entdeckte, dass es einfach nur verschlossen war. Es waren keine zusätzlichen Sicherheitsmaßnahmen getroffen worden, um den Zugriff zu schützen. Ich verstand auch warum. Das Terminal der Tür befand sich auf der anderen Seite und war vom Gesamtnetzwerk des Rings abgekoppelt worden. Auf brachiale Weise wahrscheinlich, wie etwa dem Durchtrennen der Kabel. Ohne meine Tricks wäre es also nur möglich, die Tür von der anderen Seite aus zu öffnen. Ich folgerte, dass, wer auch immer die Tür verschlossen hatte, das Gebiet hinter dieser Tür vollständig kontrollierte und sich dort sicher genug fühlte, um keine Sicherung einbauen zu müssen. Dort hineinzugehen, roch nach Schwierigkeiten.

"Die gute Nachricht ist, dass ich die Tür problemlos öffnen kann", erklärte ich.

"Was ist die Schlechte?", fragte Sergej.

"Ich denke, dass auf der anderen Seite Ärger auf uns wartet."

"Wir müssen da aber durch", sagte Cass bestimmt. "Die anderen zwei Routen führen uns entweder durch das Jagdgebiet des O48-Killers oder der Hammerhand Gang."

"Die sind fieser als wir?" Sergej setzte dazu eine besonders grimmige Miene auf.

"Ha, überschätz dich mal nicht, Opa", konterte Cass. "Ich alleine würde da wahrscheinlich durchkommen, weil ich den Ring kenne, aber mit euch im Schlepptau? Nie im Leben."

Sergej runzelte die Stirn und ich stellte eine Frage, bevor er die Kleine noch auseinandernahm. "Was ist das Fieseste, das es im Ring gibt?"

"Schwer zu sagen, das kommt drauf an, mit welchen gesellschaftlichen und ethischen Prinzipien du aufgewachsen bist."

"Würde sich von all diesen fiesen Dingen, die dir im Kopf rumschwirren, irgendeines in einem Tunnel einsperren, statt uns zu jagen? Wäre etwas davon in der Lage, die Tür zu verriegeln?"

Cass verschränkte die Arme, starrte eine Stelle an der Wand an und wippte herum. "Nein, so gesehen fällt fast alles weg, das schlimmer ist als der O48-Killer oder die Hammerhand Gang."

HypothermieWo Geschichten leben. Entdecke jetzt