Zwischenspiel 3a

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Der alte Mann im Laborkittel, der irgendwann einmal weiß gewesen sein musste, blätterte durch die vergilbten Seiten auf seinem Klemmbrett und studierte die darauf verzeichneten Daten. Sie stammten noch aus einer Zeit, in der nicht alles auf digitalen Datenträgern gespeichert wurde.

"Das ist doch ein Scherz, oder?", murmelte er.

"Was meinen Sie?", fragte sein ewig nervöser Assistent.

"Dieser Patient wurde anscheinend bereits tiefgefroren vor den Toren der Zitadelle geborgen, bevor er in einer der Kältekammern eingelagert wurde."

"Uuuund?"

"Nun, wie sie vielleicht wissen, ist die Zitadelle von den Wohnbereichen der Ratsfamilien umgeben. Und das bereits seit Beginn der bekannten Geschichtsschreibung der Zitadellenstadt. Wohltemperiert und klimatisiert lassen sie es sich dort gut gehen. Falls es in diesem Gebiet jemals so kalt gewesen sein sollte, dass es fror, hätte der Rat der Technikabteilung aber die Hölle heißgemacht. Unmöglich, dass dort ein Mensch erfroren ist."

"Aber wenn es doch in den Unterlagen steht, Chef?"

Der alte Mann verzog missbilligend die Mundwinkel. "Ja, ja, die Unterlagen." Er seufzte. "Wahrscheinlich hat irgendeiner der Frischlinge die Daten zu dieser Kammer verschlampt und sich dann so einen Quatsch ausgedacht. Der Patient trägt ja nicht einmal einen Namen, sondern nur die Nummer 4107. Wissen Sie, das ist eine sehr niedrige Nummer. Ein weiterer Hinweis, dass jemand einfach nur geschlampt hat. Oder sich einen Scherz mit mir erlaubt." Er betrachtete seinen Assistenten aus dem Augenwinkel. "Das waren aber nicht Sie, oder?"

"Ich bitte Sie, Chef, ich arbeite nun schon seit fast dreißig Jahren als Ihr Assistent. Wenn es jemanden gibt, der weiß, dass Sie keinen Spaß verstehen, dann bin ich es."

Er wusste außerdem, dass sein Chef ihm glücklicherweise nie so genau zuhörte.

"4107, dass ich nicht lache. Die Zahl stammt ja noch aus den ersten Jahren. Wissen Sie, den Aufzeichnungen des Projektes nach, haben sich im Anfangsstadium nur wenige Patienten gefunden, die sich der Behandlung unterziehen wollten. Ein kostspieliges Unterfangen für Privatpersonen, da man bereits im Vorfeld für lange Lagerzeiten bezahlen musste. Übernahm keine der damaligen Krankenkassen. Es gab schließlich kaum Anzeichen auf einen Erfolg, vieles war Theorie und lebte von der Hoffnung auf die Zukunft."

Der Assistent stöhnte. "Nicht schon wieder", nuschelte er. Jetzt würde er sich wieder einen langen Exkurs in die Geschichte der Hypothermie, der Zitadellen und der kleinen Wehwehchen seines Chefs anhören müssen.

"Wissen Sie, erst viel später, zu einer Hochzeit des medizinischen Fortschritts, erklärten sich mehr Patienten bereit, sich einfrieren zu lassen. Patienten, die keine Hoffnung auf Heilung hatten, oder die nach schweren Unfällen im Koma lagen. Die Technik war ausgereifter, Lagerkosten wurden billiger und das Verfahren wurde sogar staatlich subventioniert." Der alte Mann lachte. "Ohne, dass bis dahin auch nur ein Patient wieder aufgetaut und gerettet wurde. Stellen Sie sich das mal vor."

Der Assistent konnte sich sehr gut vorstellen, wie jemand verzweifelt genug war, sich auf ein Wunder einzulassen. Immerhin hoffte er ja auch, dass sein Chef irgendwann einmal in den Ruhestand gehen und er ihn beerben würde.

"Das sollte in jener Ära auch nicht mehr passieren. Niemand wurde damals aufgetaut. Ganz im Gegenteil. Der große Klimawandel kam, die Eiszeit. Industrie und Forschung konzentrierten sich darauf, wie die Menschen in der erbarmungslos gewordenen Welt überleben konnten. Die Zitadellen wurden erschaffen. Die Kunst der Hypothermie wurde zu den Akten gelegt."

Der Assistent überlegt sich, ob sein Chef merken würde, wenn er sich jetzt einen Kaffee holte. Wahrscheinlich wäre er immer noch am Reden, wenn er zurückkam.

HypothermieWo Geschichten leben. Entdecke jetzt