Eis 1.9

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Aus meiner Lage hörte ich nur, wie die Helikopter auf dem Boden aufschlugen. Dank des Konsums absolut wahrheitsgetreuer Kinofilme konnte ich mir recht gut vorstellen, wie die Rotorblätter durch die Luft geschleudert wurden und sich in einiger Entfernung in den Boden gruben, irgendwo ein Brand begann und in einer gewaltigen Explosion ein Flammenregen über die Ruinen verteilt wurde.

Ich hatte nicht die Kraft, um aufzustehen und mir die Realität anzusehen. Meine Hoffnung, unsere Hoffnung, Schnee und Tod zu entkommen, war zerschlagen und ihre Trümmer vereinten sich mit dem Schutt der Stadt. Vielleicht würden noch einmal Truppen geschickt werden, sicher aber nicht ohne eine gründliche Beratung und der Beschwichtigung des medialen Aufschreis. Bis das geschah, waren wir schon lange Futter der Wölfe oder irgendetwas anderem, das noch höher in der Nahrungskette stand.

Sergej und seine Mutter erschienen in meinem Blickfeld. Die ältere Frau humpelte und wurde von ihrem Sohn gestützt.

"Was machen wir jetzt?", fragte er. In seinen Zügen konnte ich dieselbe Fassungslosigkeit erkennen, die auch in mir herrschte.

"Weiß nicht. Vielleicht hat jemand überlebt oder es gibt Waffen, die den Absturz überstanden haben. Wir verschanzen uns irgendwo und warten, bis Rettung kommt, die nicht abstürzt."

"Meinst du, die schicken noch mal jemand?" Sergej verlagerte sein Gewicht, damit es etwas bequemer für ihn war, seine Mutter zu stützen.

"Ich weiß es nicht. Ehrlich. Aber was bleibt uns übrig? Jetzt sind wir schon den Wölfen entkommen und dem Maulwurf. Sollen wir etwa aufgeben?"

Sergejs Mutter betete auf Russisch. Ob sie am Verzweifeln war oder wirklich glaubte, dass Gott sie retten würde? Ein Wunder war mindestens nötig, um uns aus dieser Lage zu helfen. Stöhnend drehte ich mich auf die Seite und kam wieder auf die Beine. Wenn ich schon davon sprach, nicht aufgeben zu wollen, konnte ich nicht am Boden liegen bleiben.

Klara stand am Rand des Kraters und starrte in die Richtung, in der die Helikopter abgestürzt waren.

"Sollen wir nicht versuchen, sie zu retten?", fragte sie.

Ich betrachtete das brennende Trümmerfeld und sein Anblick erstickte jeden Keim eines Rettungsversuches in mir. Ich sah mich zu Sergej um, doch der schüttelte nur grimmig den Kopf.

"Tut mir leid, Klara."

Ich konnte ihr nicht in die Augen blicken und ihr erklären, dass ich eigentlich Angst um meine eigene Haut hatte. Selbst wenn keiner den Absturz überlebt haben konnte, ohne danach nicht im Feuer verbrannt zu sein. Feige wandte ich mich ab, suchte die Umgebung nach meinem Rucksack ab und fand ihn schließlich, halb verschüttet. Ich zog an den Riemen und musste meine ganze Kraft dazu aufbringen, ihn ein Stück zu bewegen. Ich zog noch fester, bis Sehnen und Muskeln kurz davor waren, zu reißen. Dann gab das Geröll ihn frei und ich stolperte ein Stück zurück. Den Bogen suchte ich nicht. Wie war ich überhaupt auf die Idee gekommen, dass ich mit ihm irgendetwas ausrichten konnte?

Sergej hatte seine Handschuhe ausgezogen, kramte in seinem Rucksack und holte eine Flasche Wasser hervor. Die Haut seiner rechten Hand war in einer ungesunden Mischung von Blau und Violett verfärbt. Ich erinnerte mich vage, dass er bei der Flucht vor den Wölfen verletzt worden war, so schlimm hatte ich das aber nicht in Erinnerung. Er drehte sich, sodass die Hand wieder aus meiner Sicht verschwand, und gab die Flasche an seine Mutter weiter. Er selbst trank erst, nachdem sie fertig war.

Ich kehrte zurück zum Rand des Kraters, zurück zu Klara, die mit leerem Blick auf die brennenden Wracks herabschaute.

So viele Tote heute. Ich wagte nicht, zu schätzen, wie viele Opfer es hier gegeben haben musste. Warum passierte das alles? Was passierte überhaupt? Waren wir im Krieg? War der Zylinder vor uns eine Rakete und die Monster neuartige Biowaffen? In den Nachrichten war die letzten Monate eine Krise der anderen gefolgt. War das jetzt ein Ergebnis oder eine Randerscheinung davon?

HypothermieWo Geschichten leben. Entdecke jetzt