Befreiung 8.4

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Die Gesichtsfarbe der Majorin hatte einen blassen Blauton angenommen und ihre Adern schimmerten dunkel durch die Haut hindurch. Sollte ein Gesicht so aussehen, selbst bei Kälte? War sie tatsächlich eine Vetis und kam hier ihr wahres Selbst an die Oberfläche?

Mein Blick wanderte weiter, drehte sich um El Robo herum und betrachtete ihn von allen Seiten. Seine Beine steckten bis zu den Knien in zwei Eisklumpen, von denen das Eis den Körper nach oben wanderte. Zuerst beschlug das Schwarz des Anzuges, dann bildeten sich kleine Kristalle und einen Augenblick später war schon das nächste Stück unter einem Zentimeter Eis verschwunden. Wenn das so weiterging, war ich bald komplett eingefroren. Dabei reichte doch schon dieser verdammte Speer, um mich auszuschalten. Was von beidem würde mich wohl als Erstes töten, wenn nicht bald etwas geschah?

Ich wunderte mich, wie nüchtern ich über meine eigene Situation nachdenken konnte. Wie wenig es mir ausmachte, mich von außen zu beobachten. Es musste wohl daran liegen, dass ich nichts mehr spürte. Ohne Schmerzen verlor der Speer, der sich in meinen Rücken bohrte an Bedeutung. Ich hatte offenbar vollkommen meinen Bezug zur Realität verloren.

Ich fragte mich, von wo aus ich mich eigentlich beobachtete. Die Kamera bewegte sich. Sah ich gerade durch die Augen der Kameradrohne? Irgendwie musste ich es geschafft haben, über das Zitadellennetzwerk den Stream der Drohne abzurufen, den wir für die Bewohner der Zitadelle laufen ließen.

Wenn ich es geschafft hatte, ganz unbewusst im Zitadellennetzwerk umherzuwandern, musste ich es doch auch schaffen, dieses verdammte Tor zu öffnen! Nun, solange mein Kopf noch nicht eingefroren war. Ich konzentrierte mich darauf, und statt El Robo mit meinem eigenen Körper zu bewegen, schickte ich ihm Befehle.

Die Drohne schwirrte um den Anzug herum, der in Zeitlupe eine Faust hob und gegen das Tor fallen ließ. Ein dumpfer Klang ertönte, als klopfe man gegen ein leeres Regenfass.

So würde das nicht funktionieren. Statt meiner Fäuste musste ich andere Werkzeuge einsetzen. Mein Hackerwerkzeug, um genau zu sein. Die Faust öffnete sich und legte sich wieder auf die Oberfläche des Tors. Wie erwartet, stieß mein Verstand auf eine Wand. Sie hatten einen digitalen Schutzwall errichtet, an dem ich zu knabbern haben würde. So lange, bis mein Körper erfror. Um es schneller zu schaffen, würde ich Hilfe brauchen.

Von der Wand aus sprang mein Geist zurück in die Hand und raste durch das Netzwerk. Jedem Gerät, dem ich begegnete – und das waren viele –, sagte ich, dass ich seine Hilfe bräuchte. Alle gemeinsam mussten sie daran arbeiten, die Verschlüsselung des Tores zu knacken. Wenn man genauer darüber nachdachte, war es eigentlich nicht ich, der sie befreite, die Bürger der Zitadelle befreiten sich selbst. Oder es waren ihre Medienpanels, Nahrungssynths und Haartrockner?

Ich beschloss, es Moritz und Cass gleichzutun und den Akt dieser Befreiung zu filmen. Nicht nur das, nachdem ich sowieso schon mit allen Geräten verbunden war, schickte ich den Stream auf jedes Medienpanel, das ich erreichen konnte. Auf ihnen würde jetzt ein neuer Medienkanal auftauchen, den ich dramatisch 'Das Tor in die Freiheit' taufte. Dann erschuf ich unzählige Unterkanäle, an die ich die Bilder El Robos Kameras und die des Raums sandte. Jeder Zuschauer konnte sich also einen Platz suchen, der ihm gefiel.

Und es kamen schon die Ersten. Zuerst verhalten, einige kamen und einige gingen, denn viel passierte in diesen drei Sekunden, seitdem mich der Speer getroffen hatte, nicht.

Einer der Zuschauer fragte, was hier los sei. Die illegale Ausstrahlung des neuesten Actionstreifens?

"Wartet ab", sagte ich in Gedanken und mein Kommentar erschien im Medienkanal.

Meine Gedanken rasten gleichzeitig in mehrere Richtungen davon. Es kam mir so einfach vor. Lag es daran, dass ich meinen Körper verloren hatte und mein Geist dafür auf Hochtouren arbeitete? So, wie jemand besser hören konnte, der sein Augenlicht verloren hatte?

HypothermieWo Geschichten leben. Entdecke jetzt