Schock 6.6

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Ruiz führte uns zu einer großen Halle, aus der uns die hellen Klänge von Hammerschlägen auf Metall und schwüle Hitze empfingen. Ein Mann bearbeitete ein Werkstück auf einem Amboss und stellte dabei seinen nackten, muskelbepackten Oberkörper zur Schau, der im Schein der Glut glänzte. Ein Stück daneben saß Moritz an einem Tisch und bastelte an etwas weitaus Filigranerem. Durch den Lärm der Schläge bemerkte er nicht, wie wir näher kamen, und sah erst auf, als wir vor ihm standen.

"Du scheinst ja schon voll in dieser Gemeinschaft aufgegangen zu sein", scherzte ich. Er grinste, als er uns erkannte. "Hey, ihr seid also auch im Ring. Und ihr lebt noch."

"Hattest du daran etwa Zweifel?", fragte Sergej argwöhnisch.

"Wir waren uns nicht sicher, ob sie euch nicht direkt ins Eis verfrachtet haben, oder gar nicht in den Ring geschickt, weil ihr im Vergleich zu mir eher kleine Fische seid."

Meinte er das ernst? Ich musterte ihn eindringlich und er konnte sich das Grinsen nur ein paar Sekunden verkneifen. 

Hinter mir scharrte Cass unruhig mit einem Fuß im Dreck und ich seufzte. "Ich glaube, ich muss dir deinen wahrscheinlich größten Fan im ganzen Ring vorstellen. Wenn es eine Kamera gibt, auf der du zu sehen bist, kannst du dir sicher sein, dass sie zuschaut. Cassandra, die Enkeltochter von Héctor Ruiz."

Die drückte sich, kaum das ich ausgeredet hatte und - enttäuschenderweise – ohne auf die Stichelei einzugehen, an mir vorbei und streckte ihm die Hand entgegen. "Hi! Ich bin Cass! Ich bin wirklich dein größter Fan! Ich finde es sooo krass, was du alles drauf hast und wie du die Zitadelle gerockt hast! Und ..."

Sie plapperte einfach weiter und Moritz schielte an ihr vorbei, sah mich hilfesuchend an. Ich hätte auch nicht gewusst, was ich davon halten sollte, wenn ich an seiner Stelle gewesen wäre. Cass war aber auch eine sonderbare Erscheinung, hatte sie doch immer noch Kappe, Brille und Schal an. Ich war mir sicher, dass sie inzwischen schon so viel Zeit in dieser Umgebung zugebracht hatte, dass es ihr selbst gar nicht mehr auffiel.

"Vielleicht will sie ein Autogramm von dir auf irgendeinem ihrer Körperteile", kommentierte Sergej in anzüglichem Tonfall. "Dazu müsste sie aber erst mal ihre Klamotten ausziehen."

Moritz wurde rot und rutschte mit dem Stuhl ein Stück zurück, ganz so, als hätte er Angst, dass Cass das wirklich tat und gleich über ihn herfiel.

"Äh ...", begann er zu stammeln, sprang dann auf. "Ich gehe mal sehen, was Klara macht, und hol sie her. Wartet einfach auf mich ... oder auch nicht." Mit den Worten machte er einen Haken um uns herum und verschwand.

"Oh Mann, das ist ja mal gar nicht gelaufen." Cass ließ den Kopf hängen.

"Ich denke, dein Äußeres könnte ihn etwas abgeschreckt haben." Nicht dass sie das aufmuntern würde, aber irgendwo musste ich ja anfangen. "Oder deine Art, wie ein Wasserfall zu plappern." Ja, der Kommentar war um einiges hilfreicher.

Sie schniefte zur Antwort. "Seh ich etwa so schrecklich aus?"

"Keine Ahnung." Ich zuckte mit den Schultern "Ich mein, ich weiß ja nicht wirklich, wie du aussiehst. Es sei denn, deine Ledermontur, Brille und Schal spiegeln dein wahres Äußeres wider."

"Oh - wie - blöd!", rief Cass und stampfte bei jedem Wort auf. "Daran habe ich gar nicht gedacht. Ich wollte einfach gleich mit ihm über irgendetwas Technisches quatschen." Sie drehte sich zu Ruiz. "Ihr habt doch ein Bad in diesem Loch, oder?"

"Hältst du uns für Barbaren?" Ruiz lachte. "In meinem Haus, du weißt sicher noch, wo es steht."

Cass nickte und verschwand. Jetzt, da wir etwas Ruhe hatten, sah ich mich in der Halle um. Außer der Schmiede und Werkbank befanden sich hier hauptsächlich Schrott und Altmetall. Ausgeschlachtete Autowracks, Kühlschränke, Mikrowellen und ähnliche Überreste der alten Zivilisation. Das musste ein Zwischenlager der Schrottis gewesen sein, bevor der Ring zum Gefängnis der Zitadelle umfunktioniert wurde. Wo sonst sollte das alles herkommen, wenn nicht aus der Außenwelt? Ich konnte mir gut vorstellen, dass Ruiz Leute bei vielem gar nicht mehr wussten, wozu es einst benutzt wurde.

HypothermieWo Geschichten leben. Entdecke jetzt