Eis 1.8

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"Wow, was war das?" Klara hüpfte vor Schreck.

"Wahrscheinlich ist die Armee jetzt angerückt und schießt mit Raketen auf Wölfe", scherzte ich. "Können die nicht warten, bis wir draußen sind?"

"Haaaaallo, wir sind noch hii-iier!", rief Klara, den Kopf nach oben gerichtet. Nur ein langgezogenes Echo antwortete ihr.

Sergej hatte eine finstere Miene aufgesetzt. Ich verstand, dass ihm nicht nach Scherzen zumute war. "Wir sollten uns beeilen", murmelte er. "Geht das bei dir, Mama?"

Sie nickte, aber mir entging der Schweiß nicht, der ihr auf der Stirn stand. Auch Sergej nicht. Unsere Blicke trafen sich und ich sah, dass er es wusste. Sie war tapfer. Nun, von irgendwem mussten ihre Söhne das ja geerbt haben. Doch wenn hier etwas schief ging, war sie vielleicht die Erste, die es erwischte.

Der Boden erzitterte. Eine konstante Vibration, die einige Sekunden anhielt.

"Wenn das weiter so wackelt, werden meine Füße taub", stellte Klara fest und kicherte.

Ich war versucht, darauf zu antworten, die Situation aufzulockern, aber Sergejs ernstes Gesicht, starr auf den Tunnel vor uns gerichtet, verunsicherte mich. Klara würde es guttun, wenn wir als Erwachsene die Ruhe bewahrten, so taten, als wäre alles nur halb so schlimm oder eine Art Spiel. Und vielleicht würden wir in ein paar Tagen ungläubig zurückblicken, auf das, was hier geschehen war. Zumindest sie würde das können, hoffte ich. Ich vielleicht auch, denn ich hatte niemanden verloren.

Das Beben setzte wieder ein und Klara machte große Augen. Ich wusste, dass ihr bereits der nächste Spruch auf der Zunge lag, doch Sergej hatte keine Geduld mehr.

"Kommt weiter!", fuhr er uns an, die Augen aufgerissen. "Keine Zeit für Scherze!"

Er hatte natürlich recht damit, die Sache ernst zu nehmen, aber er musste doch auch auf Klara Rücksicht nehmen. Ich warf ihr einen entschuldigenden Blick zu.

Sergej beschleunigte seinen Schritt und trieb unsere Gruppe durch den Tunnel. Seine Mutter keuchte. Sie würde das nicht mehr lange durchhalten.

Das Beben gipfelte in einer Erschütterung irgendwo hinter uns. Steinchen rieselten auf uns herab und ein Riss in der Wand überholte mich.

"Schneller!", rief Sergej.

Wir legten noch einmal einen Zahn zu. Was auch immer hier passierte, wir sollten auf keinen Fall da sein, wenn es größeren Schaden anrichtete.

Ein Krachen ließ den Tunnel erzittern. Es war so stark, dass ich einen oder zwei Zentimeter vom Boden abhob. Dann brach der Tunnel hinter uns zusammen.

Ein Geräusch, ohrenbetäubend wie das Zischen einer Dampflok, erklang hinter uns. Ich drehte mich um und starrte in ein trübes Auge, größer als mein Kopf. Umgeben von einem Meer an weißem Fell.

"Was ist das?", rief ich ungläubig.

Wie groß musste der restliche Körper sein, wenn das alles war, das ich davon erkennen konnte?

Auge, Fell und der Rest des Monstrums setzten sich in Bewegung und ließen den Boden erbeben. Schaben und Kratzen begleiteten seinen Vormarsch, und ich biss mir bei dem Geräusch unwillkürlich auf die Unterlippe.

Die anderen waren bereits ein Stück voraus, während ich noch zurückgeblickt hatte, und ich versuchte aufzuholen.

Hinter mir fielen weitere Teile des Tunnels in sich zusammen, bis die Kreatur innehielt. Auch wenn es total selbstmörderisch war, drehte ich mich nochmal um.

Das Auge war sogar noch größer, als ich zuerst gedacht hatte, und füllte sicher ein Viertel des Tunnels aus. Ich hielt inne und den Atem an. Wir starrten uns gegenseitig an. Das dachte ich wenigstens. Es schnüffelte. War es am Ende blind?

HypothermieWo Geschichten leben. Entdecke jetzt