Kapitel 5

39 11 7
                                    

Es war an einem besonders kalten Tag, als er Delia wiedersah. Die junge Frau war ihm in den letzten Wochen nicht aus dem Kopf gegangen. Trotz des intensiven Unterrichts, zu dem ihn Orik nahezu gezwungen hatte, konnte er sie nicht vergessen.

Timo hatte dem Oberen Kriegsminister nicht von ihr erzählt. Immer wieder war er versucht, doch dann erinnerte er sich stets an seinen Großvater, der nach wie vor verschwunden war. Er war der Prinz von Seyl, er durfte sich keine Ablenkungen erlauben. Wenn Orik erfuhr, dass seine Gedanken einer Frau galten, würde er ganz Krylanid auf den Kopf stellen, um sie zu finden. Und wenn ihm das gelänge, wäre er von ihren Ansichten abgestoßen und würde sie ebenfalls wegsperren. Das konnte Timo nicht zulassen. Darum schwieg er.

Nur noch selten war er mit den anderen Soldaten auf Patrouille. Noch hatten die Oberen seine Herkunft nicht öffentlich gemacht. Aber durch seinen Zusatzunterricht war er zeitlich so eingeschränkt, dass er seinen Pflichten als Soldat kaum mehr nachkommen konnte. Die meisten seiner Kameraden waren zudem in der Ausbildung der Bauern eingespannt. Diese konnten bei einem Schwert nicht einmal vorne und hinten unterscheiden, sodass Timo die anderen Soldaten kaum beneidete.

An diesem Tag jedoch kämpfte er sich mit drei anderen Männern durch das Schneegestöber. Die Götter schienen über den Krieg verärgert zu sein, denn dieser Winter war besonders unbarmherzig. Auf den heißen Sommer hatte ein kurzer Herbst gefolgt. Ehe die Bäume ihr Blätterkleid hatten abwerfen können, war bereits der erste Schnee gefallen. Seitdem wurde es immer kälter.

Die Revolten hatten abgenommen, die Männer Seyls kämpften nun gegen die eisigen Temperaturen oder in den Ausbildungsstätten. Nur vereinzelt gab es noch Aufstände, aber das Wetter trieb alle zurück in ihre Wohnungen.

Timo verschränkte zitternd die Arme. Er trug zwei Mäntel übereinander und dick gefütterte Handschuhe. Obwohl er damit besser ausgerüstet war als seine Kameraden, fror auch er. Seine Nase fühlte sich an wie ein Eiszapfen und seine Laune war im Keller. Wäre sein Privatlehrer nicht von einem heftigen Fieber befallen, würde er in diesem Moment vor dem warmen Kaminfeuer über die Dunklen Jahre sprechen.

Die Straßen waren menschenleer, nicht einmal der Markt hatte noch geöffnet, da es unmöglich war, bei diesem Schneegestöber Stände zu errichten.

„Dieses Mistwetter", schimpfte Bert. Er war ein Bulle von Mann und litt noch am wenigsten unter den Temperaturen. „Das ist doch reine Schikane", grummelte er weiter. „Da traut sich sowieso keiner vor die Tür. Nicht einmal die hartgesottensten Halunken."

Timo musste ihm insgeheim zustimmen. Auch wenn er seine Meinung nicht laut aussprach, hielt er die Patrouille ebenfalls für verschwendete Zeit. Wer auch immer es wagte, durch die Straßen zu schleichen und in die erleuchteten Adelsvillen einzubrechen, dem gehörte vermutlich Respekt gezollt.

Fast schämte er sich für diesen Gedanken. Er war der Prinz von Seyl, es war seine Aufgabe, das Volk zu schützen. Das würde er tun, soweit es ihm möglich war. Aber was hatte das alles für einen Sinn, wenn er dabei erfror?

Nicht einmal eine Katze lief ihnen über den Weg. Sogar die sonst allgegenwärtigen Ratten waren nirgends zu sehen. Was bei dem kniehohen Schnee, der ihnen den Weg erschwerte, eigentlich auch nicht verwunderlich war.

Timo spürte, wie sein durchnässtes Hosenbein eisig an seiner Haut klebte. Er sehnte das Ende ihrer Patrouille herbei.

In der Ferne war die eilig erweiterte Ausbildungsstätte zu erkennen. Der große Holzbau mit dem eisernen Zaun war nicht mehr als ein dunkler Schatten zwischen wild umherwirbelnden Schneeflocken.

Beinahe wäre er gegen seinen Vordermann gestoßen, da dieser unvermittelt innehielt. „Seht euch das an", sagte er. „Da hat sich tatsächlich eine arme Seele hier rausgetraut."

Die Chroniken von Seyl 2 - Die Herrscher der WüsteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt