Kapitel 6

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Vor einer einfachen Hütte im vierten Bezirk blieben Timo und Delia stehen. „Mein trautes Heim", stellte Delia mit einer großzügigen Geste vor, ehe sie mit klammen Fingern einen Schlüssel aus ihrer Tasche kramte und versuchte, diesen ins Schloss zu stecken. Erst mit dem vierten Versuch gelang es ihr.

Mit ihnen blies der Wind eine große Ladung Schnee ins Innere. Delia stemmte sich gegen die Tür, die sich unter den gewaltigen Naturkräften nahezu bog. Mit einem befriedrigem Klicken fiel sie ins Schloss.

Die junge Frau entzündete eine Lampe und schichtete ein paar spärliche Holzscheite in den kleinen Kamin. Sie bedeutete Timo in einem zerschlissenen Sessel Platz zu nehmen, während sie ein kleines Feuer entzündete. „Mein Salon", erklärte sie spöttelnd und Timos Blick glitt durch den dunklen Raum.

Neben der Tür befand sich eine kleine Kochstelle mit einem verdreckten Topf, verschiedene getrocknete Kräuter hingen von den hölzernen Deckenbalken. In einem großen Korb befanden sich Kartoffeln, Einmachgläser standen auf einer windschiefen Anrichte, daneben war ein Loch in der Hauswand mit einem morschen Brett notdürftig geflickt worden.

Das schmale Fenster klapperte leise und das Feuer im Kamin flackerte unter einem beständigen Luftzug.

Delia wickelte sich das Tuch vom Kopf, behielt ihren löchrigen Mantel jedoch an. Mit einem Ächzen nahm sie auf dem zweiten Sessel Platz, dessen Stoff bereits mehrere bunte Fetzen zierten. Sie beugte sich vor und hielt ihre dünnen Finger nah ans Feuer.

„Du hast mich also gesucht", begann sie schließlich. „Warum? Was habe ich, eine einfache Frau, die gerade so über die Runden kommt, getan, um die Aufmerksamkeit eines Herrschersohns auf mich zu ziehen?"

Timo zuckte mit den Schultern. Das Feuer wärmte kaum und er verschränkte fröstelnd die Arme. „Ich weiß es nicht", meinte er schließlich. „Du bist so anders. Ich habe noch nie jemanden getroffen, der seine Gedanken so offen ausspricht. Die Leute, von denen ich normalerweise umgeben bin, meiden mich lieber. Sie haben Angst, ich könnte sie in Verruf bringen."

„Überrascht dich das so sehr?"

„Ich habe noch niemanden ins Gefängnis gebracht, weil ich bei Orik schlecht über ihn geredet habe", empörte sich Timo.

„Bist du dir sicher?", fragte Delia.

Prando kam ihm in den Sinn und er schwieg verlegen. War es nicht seine Schuld gewesen?

„Deiner Reaktion entnehme ich, dass deine Worte nicht der Wahrheit entsprechen."

„Mein Großvater", würgte Timo hervor.

Entsetzt richtete sie sich auf. Hatte sie bis eben noch ins Feuer gestarrt, fixierten ihre braunen Augen die seinen. „Du hast deinen Großvater hingehängt?"

„Was? Nein, ich... Ich war zwölf, verstehst du? Es war nicht meine Absicht. Ich wollte doch nur bei meinem Vater bleiben."

„Ich gehe davon aus, dass du mit Vater den Oberen Kriegsminister meinst?"

„Ja." Timo streckte nun auch seine Hände zum Feuer aus. „Mein richtiger Vater hat meine Mutter und mich verlassen, als ich noch ein Säugling war."

„Das tut mir leid."

„Muss es nicht. Nach dem Tod meiner Mutter hat mich mein Großvater und später Orik aufgezogen."

„Kein Wunder, dass du ihm so hörig bist", murmelte Delia.

„Was ist mit dir?", überhörte Timo ihren Einwurf. Er wollte nicht mit ihr streiten. „Was ist mit deiner Familie?", fragte er.

Die Chroniken von Seyl 2 - Die Herrscher der WüsteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt