Ich zog mich unter Deck zurück. Kaum schloss sich die Tür hinter mir, war es viel dunkler und kühler. Durch die schmalen Fenster fiel nur spärliches Licht und das Stimmgewirr von draußen war zu einem gedämpften Gemurmel geworden.
Die Kajüte, die die beiden Frauen und ich uns teilten, lag neben der des Kapitäns. Alyn und Rosena schliefen in den beiden sehr schmalen Betten, während ich eine Hängematte als Schlafplatz nutzte. Für ein drittes Bett wäre kein Platz mehr gewesen, außerdem war die Hängematte sowieso praktischer.
Auf Rosenas Laken lag ihr Zeichenblock aufgeschlagen. Auch wenn es mich eigentlich nichts anging, konnte ich doch der Versuchung nicht widerstehen.
Verschiedene Bilder sprangen mir entgegen. Anfangs zeigten die meisten das Monster aus ihren Albträumen, dann aber war sie zu anderen Motiven übergegangen. Drei Gestalten, die vom Betrachter weg über eine schneebedeckte Landschaft reiten; ich mit einem nachdenklichen Gesichtsausdruck in die Ferne starrend; Alyn wie sie mit den Fingern ihre Haare entwirrt und abermals ich, dieses Mal bei einer Kampfübung. Ein Bild zeigte einige Krähen, die über einem unerkenntlichen Haufen schwirren, ein anderes, wie ich Farah versorge, während Alyn mich mit einem undefinierbaren Blick aus dem Hintergrund beobachtet. Auf dem Neuesten war Mika abgebildet, der abseits der anderen Matrosen steht und sich vom Betrachter halb abwendet. Trotzdem ist sein trauriger Blick unübersehbar. Rosena besaß unglaubliches Talent. Kein Wunder, dass ihr wertvollster Besitz ein Zeichenblock und kein Schmuck war.
Ich ließ mich in die Hängematte fallen, die sofort hin- und herschaukelte. Bei jedem Richtungswechsel ertönte ein leises Quietschen. Ich verschränkte die Hände über dem Kopf und starrte an die Decke. Der Stoff der Matte fühlte sich rau an meiner Haut an und etwas kratzig, aber die monotone Bewegung und das regelmäßige Quietschen machten mich schläfrig.
Ich begann zu blinzeln, während mich die Müdigkeit übermannte. Für einen kurzen Moment gestattete ich es mir, die Augen zu schließen.
Als ich sie jedoch wieder aufriss, befand ich mich an einem anderen Ort. Einem Ort, den ich bereits eine Weile nicht mehr gesehen hatte.
Wo beim letzten Mal noch Blüten durch die Luft gewirbelt waren, herrschte Leere. Die Bäume schienen alle kahl. Schwarze Baumstämme ragten in einen grauen Himmel und die Trostlosigkeit, die dieser Hain ausstrahlte, erschütterte mich. Es schien, als wäre sämtliches Leben aus ihm gewichen. Die Kirschen wirkten wie Gerippe ohne Fleisch und Haut.
Eilig machte ich mich daran, diese Einöde hinter mir zu lassen. Je näher ich dem großen Baum kam, desto lebendiger sahen auch die Kirschbäume aus. Einige von ihnen trugen noch ihr blutrotes Blütenkleid und ich atmete erleichtert aus. Bis zu diesem Zeitpunkt war mir nicht einmal bewusst gewesen, dass ich die Luft angehalten hatte.
Sie stand an den großen Baum gelehnt, im Kreuz dessen mächtigen Stamm. Ihr Blick war nach oben gewandt und sie schien in das Geäst zu starren. „Erinnerst du dich an das Geschenk, das ich dir gemacht habe?"
Inzwischen hatte ich es aufgegeben, mich zu fragen, woher sie immer wusste, wann ich auftauchte. „Das Geschenk, von dem ich nicht weiß, wofür es gut ist?", fragte ich leicht zynisch. „Ja, daran kann ich mich in der Tat erinnern."
Sie schien meinen Unterton nicht zu bemerken oder es war ihr auch einfach gleichgültig. „Es wird dir helfen zu überleben. So wie es dir bereits geholfen hat, die Folter zu überstehen. Du lagst richtig mit dem Glauben, dass kein Mensch für immer seine Geheimnisse behalten kann." Ich zuckte zusammen.
Die Frau lächelte. „Niemand ist allmächtig. Nur die Götter sind es, aber sie haben beschlossen, für den Moment nicht weiter einzugreifen. Damit das Gleichgewicht nicht gestört wird, verlangt mein Geschenk eine entsprechende Gegenleistung." Sie verstummte und starrte sinnierend in die Ferne. „Aber das braucht dich nicht zu kümmern – zumindest nicht für den Moment."
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Die Chroniken von Seyl 2 - Die Herrscher der Wüste
FantasySenn und Alyn haben es geschafft: Sie haben den ersten Edelstein gefunden. Doch nun führt ihre Reise sie nach Skaramesch, das Land der Wüste. Der Weg dorthin ist nicht einfach, es lauern Piraten, die es insbesondere auf wohlhabende Reisende abgesehe...