Kapitel 28

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Zu dem Zeitpunkt, an dem die Sonne unterging, war ich ein nervliches Wrack. Der Fluss strömte unverändert durch die Dschungellandschaft um uns herum. Wir hatten drei Stromschnellen und sogar einen Wasserfall passiert, bei dem meine Innereien durcheinandergewirbelt worden waren.

Als wir getrieben von Tonnen unaufhaltsamer Wassermassen über den Rande des Abgrunds stürzten, hatte ich fest damit gerechnet, nie wieder Alyn in meinen Armen spüren zu können. Lapislazuli hatte vor Freude aufgelacht und vor Begeisterung mit den Armen gewedelt. Als wäre das eine harmlose Bootsfahrt und der Wasserfall eine kleine Welle. Ich hatte mich verkrampft an den Baumstamm geklammert und mit weit aufgerissenen Augen auf den weit entfernten Wasserklecks gestarrt, der sich mit rasender Geschwindigkeit näherte.

Ich hatte erwartet, einen harten Aufprall und dann nichts mehr zu spüren. Stattdessen waren wir sanft aufgefangen worden. Verschwommen hatte ich aufgewirbeltes Wasser um uns wahrgenommen, aber es schien uns nicht zu erreichen. Lapislazuli hatte uns in einer Blase eingeschlossen, die uns sicher zurück an die Oberfläche transportierte.

Nachdem wir wieder aufgetaucht waren, hatte ich erst einmal hysterisch zu lachen angefangen, so groß war die Erleichterung darüber, noch am Leben zu sein.

Jetzt waren allerdings die letzten Reste dieser Aufregung verloren und hatten stattdessen einer Unruhe Platz gemacht, die sowohl meinen Geist als auch meinen Körper befiel.

„Wie lange dauert es noch?", fragte ich bestimmt schon zum zehnten Mal.

Lapislazulis Antwort war jedes Mal dieselbe: „Wir sind da, wenn wir da sind. Schneller geht es nicht."

Ich wusste, dass sie damit recht hatte. Manchmal fragte ich mich, ob ich noch dieselbe Person von vor einem halben Jahr war. Damals hatte mich nichts aus der Ruhe bringen können. Warten war ein wichtiger Bestandteil meiner Arbeit, doch jetzt konnte ich diese nervöse Energie, die mich befallen hatte, nicht kontrollieren.

Der Mond über uns stand bleich und riesig am Himmel, als ich schließlich resignierte. Ich hatte versagt. Ich hatte nicht nur Joarken nicht retten können, sondern auch den Kapitän. Es war mir schon immer leichter gefallen, Leben zu vernichten als Leben zu retten.

Das blasse Licht des gigantischen Himmelskörper ließ die Locken Lapislazulis geheimnisvoll schimmern. Jetzt aus der Nähe stellte ich fest, dass sie eine ganz andere Struktur hatten als die Alyns. Alyn. Hoffentlich würden die Piraten es gestatten, sie noch einmal zu umarmen, bevor man uns tötete oder als Sklaven verkaufte. Wobei ich lieber sterben würde, als mit anzusehen, wie man Alyn knechtete. Auch Rosena hatte so ein Schicksal nicht verdient.

Auf einmal drehte Lapislazuli sich um. Ich wurde verlegen, da sie mich beim Starren erwischt hatte, aber sie schien es nicht einmal zu bemerken. „Wir sind bald an der Mündung des Blable. Der Sidun fließt merklich langsamer, allerdings ist es von dort aus nur noch ein Katzensprung nach Par'Nevere."

Sie wollte sich gerade wieder nach vorne drehen, als ich sie zögerlich aufhielt.

„Ich weiß, dass dein Volk es als unhöflich empfinden würde, aber darf ich dir eine Frage stellen?"

Ihre blauen Augen schimmerten schwarz, als sie die Stirn runzelte. „Was willst du wissen?"

„Woher weißt du so gut über die Welt außerhalb des Dschungels Bescheid?"

Sie lachte. „Ich habe alles von der Flüsterin gelernt. Sie ist für einige Jahre mit ein paar Leuten – ich glaube ihr nennt sie Zigeuner – herumgezogen. So hat sie viele Länder bereist und sich in dieser Zeit auch dem Erlernen von Akrid gewidmet. Sie wusste schließlich, dass es mir jemand einmal beibringen muss."

Die Chroniken von Seyl 2 - Die Herrscher der WüsteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt