Kapitel 21

36 11 0
                                    

Nachdenklich stand sie am Fenster. Draußen herrschte tiefster Winter. In der Ferne, hinter dem großzügigen Vorplatz, konnte sie das geschäftige Treiben der Stadt sehen. Droschken, Kutschen, Passanten. Trotz der kalten Temperaturen war der Verkehr auf den Straßen nicht weniger geworden.

Fast beneidete die alte Frau die Menschen da draußen, die nichts von dem Krieg wussten, der bald in ihren Nachbarländern toben würde.

Es klopfte.

„Eure Hoheit." Ein Diener trat ein. „Ich habe Nachricht." Er überreichte ihr einen Zettel in einer altbekannten gequetschten Schrift. Sie dankte dem Mann und setzte sich.

Eure verehrte Majestät,

der heftige Wintereinbruch in Seyl hat meine Abreise verzögert. Manche Straßen sind gar unpassierbar geworden. Für den Moment sitze ich in Krylanid, der seylschen Hauptstadt fest. Dort hat sich die Lage zugespitzt. Die Oberen lassen hart durchgreifen, treiben kampffähige Männer wie Schafe in die Ausbildungsstätten, wo sie gedrillt werden sollen.

Die Aufstände haben nachgelassen. Ob das an der Kälte liegt oder an der Resignation, die die Bevölkerung anscheinend überkommen hat, kann ich nicht beurteilen. Ew. Majestät müssen verstehen, dass die Seylaner schon lange erfolglos gegen die Fremdherrschaft ankämpfen. Politische Gegner werden inhaftiert oder getötet. Hohe Steuern und wenig Bildung tun ihr Übriges. Jetzt, wo das Volk endlich den Mut gefunden hat, aufzubegehren, sorgt der Winter gemeinsam mit dem Krieg für mehr Hoffnungslosigkeit, als in den Jahren zuvor der Fall gewesen wäre.

Allerdings haben sich die Gerüchte über eine Rückkehr der Edelsteine und des Königs verstärkt. Interessanterweise wurde letztere von zwei verschiedenen Seiten bestätigt. Das gemeine Volk - insbesondere auch die Krylanider Unterwelt - halten fest, dass der Phönix zurückgekehrt sei. Bei dieser Parole handelt es sich gar um das Erkennungszeichen der Widerständler. Meines Erachtens wenig einfallsreich. Meine Quellen im Herrscherpalast sprechen von einem jungen Mann, dem Ziehsohn eines der Oberen. Ich bin mir unsicher, ob es sich um ein und dieselbe Person handelt. Ich werde die Dinge weiter im Auge behalten. Wenn der Winter Seyl aus seinen Klauen entlässt, werde ich jedoch zurückkehren.

Euer ergebenster Diener,

L.W.

Fast wünschte sich die alte Frau, ihr Spion würde noch länger in Seyl verweilen. Seine Nachrichten hatten Ähnlichkeit mit all den Scheußlichkeiten, über die man heute in den Geschichtsbüchern las. Es interessierte sie brennend, ob es Seyl gelingen würde, sich selbst zu befreien. Sie hatte keinerlei Verbindungen zu diesem Land und seine Bewohner waren ihr gleichgültig. Doch das, was sich dort abspielte, konnte sowohl als Mahnung, denn auch als Lehrstück gelten.

Wieder warf sie den Brief ins Feuer.

Vielleicht sollte sie einen Spaziergang machen. Unauffällig zwischen den Städtern wandeln. Auf das Volk hören.

Nachdenklich beobachtete sie, wie das dünne Papier von den Flammen verzehrt wurde. Vielleicht waren sie ebenfalls arrogant und eines Tages würde sich ihre Blindheit gegen sie selbst wenden. Die Zeiten, in denen Herrscher gottähnliche Wesen gewesen waren, waren unwiderruflich vorbei. Heute musste man sich erst profilieren.

Sie läutete nach dem Diener.

„Ich werde einen Spaziergang machen", verkündete sie.

Die Chroniken von Seyl 2 - Die Herrscher der WüsteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt