Kapitel 11

42 13 2
                                    

Davide musste blinzeln. Er war die Helligkeit über der Erde einfach nicht mehr gewöhnt. Viel zu selten verließ er sein Archiv und dann zumeist nachts. Jetzt jedoch herrschte helllichter Tag und die Sonne durchdrang die dünne Wolkenschicht.

Um sie herum waren herrschaftliche Villen und Paläste verborgen hinter großzügigen Grünanlagen. „Eigentlich dürft ich's gar nicht wissen", erklärte Maler und zog sich seine Mütze tiefer über die zotteligen weißen Haare. „Aber dein adeliger Freund wohnt drei Häuser die Straße rauf. Linke Seite. Das Haus ist gelb, du wirst es schon finden." Mit diesen Worten tauchte er wieder in die Kanalisation hinab. Davide stand etwas verloren da.

Niemand befand sich auf der breiten Allee, deren Bäume statt Blätter Schneeflocken trugen. Keine Kutsche und auch keine Passanten. Trotz der nachmittäglichen Stunde war alles wie ausgestorben.

Davide rieb sich geistesabwesend seine Oberarme, ehe er seine Brille nach oben schob. Dann ging er in die Richtung, in die Maler gewiesen hatte. Vor einem schmiedeeisernen Tor blieb er stehen. Er zögerte.

Seine Hand glitt zu der Glocke, dann zog er sie wieder zurück. Was, wenn es das falsche Haus war? Maler hatte recht. Er war für so etwas nicht geschaffen. Fast wäre er wieder umgekehrt und zurückgegangen, wenn hinter ihm nicht plötzlich eine Frau im dicken Wintermantel gestanden hatte.

„Guten Tag", grüßte sie freundlich und Davide zuckte zusammen. Sie betrachtete ihn interessiert. „Wollt Ihr etwa zu uns?", fragte sie neugierig, ohne eine Spur von Herablassung.

„Ich will zu Graf Alastair Verdun", sagte Davide entschlossen.

Sie lächelte. „Das ist mein Mann. Er ist leider nicht hier, müsste aber bald kommen. Wollt Ihr derweil mit reinkommen? Es ist eisig kalt hier draußen."

Dankend nahm Davide das Angebot an. Sie schloss auf und er folgte ihr. „Macht Ihr Euch keine Sorgen, dass ich Euch überfallen könnte?", wagte er zu fragen.

Ihre grau-blauen Augen unterzogen ihn einer Musterung. „Ihr seht mir mehr wie ein Bücherwurm, denn wie ein Verbrecher aus. Des Weiteren patrouillieren hier eine Menge Wachen. Mein Mann ist sehr auf meine Sicherheit und die unserer Kinder bedacht. Aber ich denke, ich weiß, wer Ihr seid. Davide, nicht wahr?"

„Woher wisst Ihr das?", fragte der Archivar erstaunt.

Sie lachte. „Mein Mann hat nicht viele Geheimnisse vor mir. Ich bin Sylvie", stellte sie sich vor.

Kaum hatte sie die mit Verzierungen bestückte Eingangstür geöffnet, kamen ihr zwei aufgeregte Kinder entgegen. Sylvie umarmte sie beide. „Mama, Mama, ich werde auch mal ein Zauberer. Genau wie Papa", krähte der Junge.

„Bäh", rief das ältere Mädchen. „Du weißt doch nicht einmal, ob du überhaupt Kräfte besitzt."

„Natürlich hab' ich die!", empörte sich der Junge.

Sylvie löste sich lächelnd aus dem Griff ihrer Kinder. „Begrüßt doch erst einmal unseren Gast und zeigt, wie wohlerzogen ihr seid."

Erst jetzt bemerkten die beiden Davide. „Guten Tag", sagte das Mädchen schüchtern und ihr kleiner Bruder tat es ihr nach.

„Guten Tag", erwiderte Davide unsicher. Der Archivar hatte noch nie viel mit Kindern anfangen können.

„Geht doch etwas spielen", schlug Sylvie vor. Die Kinder murrten ein wenig, verzogen sich dann aber nach oben.

Sylvie schlüpfte aus ihrem Mantel und hängte auch Hut und Schal auf. „Eigentlich haben wir ja einen Diener, aber der wurde eingezogen, wie viele andere unserer Angestellten auch", erklärte Sylvie. „Das ist weniger für uns ein Problem, denn für die Männer. Aber wer bin ich schon, etwas Unvermeidbares zu kritisieren? Dieser Krieg wurde uns aufoktroyiert, von Acerum aber auch von den Oberen. Am Ende können wir nur hoffen und beten."

Die Chroniken von Seyl 2 - Die Herrscher der WüsteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt