Timo hatte einige Tage gebraucht, bevor er sich schließlich dazu durchringen konnte, dem Gefangenen einen weiteren Besuch abzustatten. Delia zuliebe. Er hatte es ihr versprochen.
Ein letztes Mal. Dann würde er sie endgültig überzeugen können, dass er recht hatte. Dass die Oberen einfach nicht wussten, welches Elend in Seyl herrschte. Zudem hatte Orik verkündet, dass sie dem Volk verkünden würden, dass er der Prinz sei, sobald der erste Schnee geschmolzen war. Timo freute sich auf diesen Moment. Denn dann würde er ihm vielleicht gelingen, zu den Menschen durchzudringen. Sie würden den Krieg gewinnen und alles würde gut werden.
Doch zuvor musste er sein Versprechen einlösen. Das Gespräch mit dem Grafen von Verdun hatte ihm gutgetan. Es war ihm nicht leicht gefallen, aber sein Herz befahl ihm, es zu tun. Der Mann hatte recht, was sollten schon die Konsequenzen sein, wenn er erwischt wurde? Er war der Ziehsohn der Oberen, der Prinz von Seyl. Er war unantastbar.
Es war keine große Schwierigkeit. Inzwischen war er nicht einmal mehr richtig aufgeregt. Denn inzwischen hatte er schon so viele Dinge hinter dem Rücken von Orik getan, dass dieser eine Besuch wohl auch keinen Unterschied mehr machen würde.
Wehmütig starrte er zu der Zelle, in der sein Großvater gelebt hatte. Noch immer wusste er nicht, was mit ihm geschehen war. Ob er denn noch lebte. Doch er konnte auch nicht fragen. Wenn er jedoch erst einmal König war, würde er das ändern.
Der Gefangene bestand nur noch aus Haut und Knochen. Sein Bart war verfilzt und das Haar, welches er zuvor kurz getragen hatte, reichte ihm bald bis zu den Schultern. Anders als die letzten Male, reagierte er nicht. Langsam trat Timo näher.
„Herr?", fragte er zögerlich. Dann rüttelte er ihn leicht an der Schulter.
„Alyn?", murmelte der Gefangene.
Timo kniete sich hin. Der Boden war ekelerregend. Gelbbraune Flecken und getrocknetes Blut. Er war versucht, einfach zu gehen. Aber das Versprechen an Delia hielt ihn zurück.
„Nein, ich bin es Timo", sagte er langsam. „Wer ist Alyn?"
Erst jetzt sah der Mann auf. Seine Augen waren blutunterlaufen. Er erinnerte mehr an ein Gespenst, denn an einen lebenden Menschen. „Alyn", krächzte er. Zuerst meinte Timo, er wäre wahnsinnig geworden, so wie viele, die hier eingesperrt waren. Doch dann sprach er weiter. „Alyn ist meine Tochter."
„Ihr habt mir von ihr erzählt, nicht wahr?", fragte Timo. Das stimmte zwar nicht, aber er hatte zumindest einmal eine Tochter erwähnt. Timo hoffte, dass er durch die Erinnerungen wieder zu sich kommen würde.
„Sie ist zu einer wunderschönen Frau herangewachsen. Sie gleicht im Wesen so sehr ihrer Mutter. Aber die Haare, die hat sie von mir." Er klang stolz, als hätte er damit Beeindruckendes geleistet. Timo fragte sich unwillkürlich, ob sein Vater genauso gewesen wäre, wenn er sie nicht verlassen hätte.
„Wo ist sie jetzt?", wollte er wissen.
Wäre der Mann nicht schon so zusammengesunken dagesessen, wäre er sicher zusammengesackt. „Ich weiß es nicht", murmelte er. „Wie lange bin ich schon hier? Ich habe den Überblick verloren. Ich verliere den Verstand."
Mit seinen knochigen Händen packte er Timos Oberarme. „Ich werde wahnsinnig!" Er lachte.Timo löste mit wenig Kraftaufwand seinen Griff. Er verzog das Gesicht und schluckte. „Es ist Winter", erklärte er. „Draußen liegt Schnee und es ist eiskalt." Der Gefangene war barfüßig, bemerkte er im selben Moment.
„Friert ihr nicht?"
„Wie kann ein Toter frieren? Tot, tot, tot, so wie meine Frau. Wo ist meine Tochter?"
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Die Chroniken von Seyl 2 - Die Herrscher der Wüste
FantasySenn und Alyn haben es geschafft: Sie haben den ersten Edelstein gefunden. Doch nun führt ihre Reise sie nach Skaramesch, das Land der Wüste. Der Weg dorthin ist nicht einfach, es lauern Piraten, die es insbesondere auf wohlhabende Reisende abgesehe...