Kapitel 22

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Mit angehaltenem Atem starrte ich auf das große Tier, das grollend die Zähne bleckte. Instinktiv wollte ich nach meinen Messern greifen, da fiel mir ein, dass ich abgesehen von meiner Hose nichts am Leibe trug.

Ein ungeschriebenes Gesetz, dem ich mich unterworfen hatte, lautete, niemals, auch nicht zum Schlafen, die Waffen außer Reichweite abzulegen. Es gab einen Grund, sich daran zu halten und dieser Grund kam gerade eben schleichend auf mich zu.

Ich packte einen Zweig und riss ihn mit einiger Anstrengung ab. Angespannt hielt ich ihn schützend vor meinen Körper.

Die Raubkatze schien sich über meine lächerliche Waffe, an der noch die Blätter hingen, lustig zu machen. Beeindrucken ließ sie sich jedenfalls nicht.

„Haub ab", schrie ich sie an, doch sie näherte sich unbeirrt. Heftig atmend stellte ich mich auf einen Kampf ein. Es war keine Frage, wer den Kürzeren ziehen würde. Vermutlich würde ich stürzen, bevor ich von ihr ernsthaft verletzt werden konnte. Sollte ich den Fall überleben, würden mich die Krokodile bei lebendigem Leibe fressen.

In Sekundenschnelle schossen mir die verschiedensten Szenarien durch den Kopf. Alle endeten damit, dass ich auf die ein oder andere Weise sterben würde.

Die Leiche Joarkens kippte schon wieder. Für einen kurzen Moment war ich versucht, sie fallen zu lassen und den Krokodilen zum Fraß vorzuwerfen, in der Hoffnung, dass sie mich dabei vergessen würden. Es wäre ein grausame Möglichkeit. In mir tobte ein Kampf. Mein Überlebenstrieb rang mit meinen Moralvorstellungen.

Wie ein verängstigendes Reh stand ich wie paralysiert vor der Gefahr.

Der Ast, auf dem ich balancierte, vibrierte, als die Raubkatze elegant einen Satz machte und vom anderen Baum zu mir herübersprang.

Ich fühlte, wie ein Schweißtropfen meinen Rücken hinabrollte und am Bund der Hose hängen blieb. All meine Haare stellten sich zu Berge. Mir lief die Zeit davon. Vorsichtig machte ich einen Schritt rückwärts, immer um mein Gleichgewicht bedacht.

Plötzlich ertönte ein fremder Schrei und die Raubkatze zuckte zusammen. Unruhig verharrte sie in ihrer Stellung. Ich folgte ihrem starrem Blick. Vom Nachbarsbaum fixierten mich zwei tiefblaue Augen. Menschliche Augen.

Trotzdem blieb ich auf der Hut, unsicher, ob die Fremde eine weitere Gefahr darstellte oder die Rettung. Bei den Göttern, sie trug schließlich nicht einmal richtige Kleidung. Diesen Fetzen, den sie sich da um den Körper geschlungen hatte, konnte man wohl kaum als solche bezeichnen.

Die Raubkatze setzte sich vor mir auf den Ast und ließ mich keinen Moment aus den Augen. Die Fremde näherte sich leichtfüßig, wechselte den Baum, ohne auch nur eine Sekunde aus dem Tritt zu kommen.

Dann stand sie vor mir. Überrascht starrte ich sie an. Sie war klein. Die Frau reichte mir nicht einmal bis zur Brust. Sie grinste mich an. „Du bist also der Fremde, der mich holen wird."
Ihr Akrid klang fremdartig. Sie rollte das „R" überdeutlich und zog die Vokale in die Länge. Fasziniert lauschte ich ihrer für ihren kleinen Körper überraschend dunklen Stimme. Dann besann ich mich jedoch und schüttelte den Kopf, in der Hoffnung, so wieder klar denken zu können.

„Ich verstehe nicht."

„Ihr Fremden versteht so wenig", seufzte sie melancholisch. Ich konnte nicht anders, als ihr insgeheim zuzustimmen. Auch die Frau aus meinen Träumen hatte diesen Satz schon oft aus meinem Mund hören müssen. Die Haut der Fremden war nur ein klein wenig heller als die von Aöwe. Nicht schwarz, sondern eher in der Farbe von Kaffee. Umso deutlicher stachen ihre blauen Augen hervor, die von einem Schleier aus langen, welligen schwarzen Haaren umrahmt wurden. Haare, die denen von Alyn sehr ähnelten, aber etwas lockiger waren. Mit der breiten Nase im scharfkantigen Gesicht würde sie nach seylanischen Maßstäben nicht als klassische Schönheit gelten, aber ihre exotische Fremdartigkeit hatte etwas Hypnotisches an sich. Ihre Ausstrahlung zog mich in ihren Bann.

Die Chroniken von Seyl 2 - Die Herrscher der WüsteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt