Kapitel 72

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Bereits aus der Luft hatte ich die ersten Anzeichen des Herbstes wahrgenommen. Einzelne Blätter färbten sich, Pflanzen begannen zu blühen und wieder andere breiteten ihr Blütenkleid bereits auf dem Boden um sie herum aus.

Obwohl ich möglichst schnell in meinem Turmzimmer ankommen wollte, nahm ich mir einen Moment um die laue Nachtluft einzuatmen, den Blick zum Himmel zu heben und dann, von ganz allein, formten sich meine Lippen zu einem Lächeln. Über mich selbst den Kopf schüttelnd, wandte ich mich dem Turm zu, der hoch vor mir aufragte.

Verwundert bemerkte ich, dass eines der Zimmer, in denen Licht brannte, meines war. Ich dachte sofort an Keno und lief beschwingt die steinernen Treppen hinauf. Mit großen Schritten betrat ich mein Zimmer und blieb verwirrt stehen.

„Was machst du hier?" Villain stand am Fenster und drehte sich nun zu mir um.

„Die Frage ist wohl eher, was du gemacht hast. Wo warst du den ganzen Tag?" Seine Stimme klang gepresst und etwas atemlos und ich brauchte einen Moment um zu erkennen, dass er wütend war. Richtig wütend.

„So wie es aussieht, kennst du die Antwort auf die Frage schon." Ein schnippischer Ton hat sich in meine Stimme gelegt, als ich an ihm vorbei gehe und es mir auf der Chaiselounge bequem machte.

„Dann formuliere ich es anders. Wieso warst du mit ihm unterwegs? Den ganzen Tag?" Er sprach derart verächtlich von Vaughn, dass ich überrascht innehielt. Allgemein verwirrte mich sein Auftritt gerade sehr.

„Ist was passiert?", fragte ich besorgt.

Villain schnaubte nur. „Zuerst muss ich seinen Bruder verscheuchen und dann antwortest du mir nicht einmal vernünftig. Mir reicht es. Ich habe dir gesagt, dass Cy und Coilin kommen und wir den Abend gemeinsam verbringen wollten und du? Bist den ganzen Tag nicht auffindbar. Der Junge mit der Kreatur wusste besser wo du dich aufhältst, als ich!" Seine Stimme war immer lauter geworden und mein Herzschlag komischerweise immer ruhiger.

„Ich wusste nicht, dass sie heute ankommen. Ich wäre sonst nicht so lange weggeblieben. Wir können doch auch morgen den Abend zusammen verbringen? Vielleicht im Schlossgarten?", schlug ich vor.

„Klar!", ächzte er verächtlich. „Damit dein Königlein bloß nicht ausgeschlossen wird." Vorwurfsvoll sah er mich an.

„Wenn Vaughn nicht eingeladen ist, wird er sicher auch nicht kommen." Ich stand auf und trat zu Villain ans Fenster, hoffte ihn dadurch besänftigen zu können. „Was ist los, Vill? Geht es deinem Vater gut?" Tatsächlich beruhigte sich sein hektischer Atem etwas.

„Ja", sagte er nach einer Weile und sah mich an. „Entschuldige bitte, meinen ungehaltenen Ausbruch, Bella." Ich nickte und ließ zu, dass er mich in seine Arme zog. Ich wartete auf das wohlige Gefühl, dass sich bei der Umarmung eines Vertrauten ausbreitete, doch es kam nicht. Zu schwer wogen seine Worte, zu laut klang seine verächtliche Stimme.

Noch vor dem Frühstück war ich mit Les in den Wäldern unterwegs. Ausgerüstet mit Pfeil und Bogen, trainierten wir in einer fremden Umgebung. Zischende Pfeile flogen durch die Luft, Erde und Gras wirbelte auf, wenn Les eine enge Drehung galoppierte. Die Sonne war gerade erst aufgegangen und die ersten Strahlen erklommen das Blätterdach. Ich konnte nicht aufhören es zu genießen – die Freiheit, die sich in mir ausbreitete, wenn der Wind an meinen Haaren zerrte und sich Les Muskeln unter mir anspannten.

Heute stand ein wichtiges Treffen an. Vaughns Kundschafter wurden gegen Mittag zurückerwartet und außerdem glaubte ich, dass Oraziel und Rouven von ihren Erkundungstouren noch deutlich mehr zu berichten hatten, als sie es bisher getan hatten. Im Turm tauschte ich die lederne Reitkleidung mit den schweren Schnallen und Gürteln gegen ein leichtes rotes Kleid, das mit einer Kordel um die Taille gebunden wurde. Runa bot an mir zu helfen, doch ich lehnte dankend ab.

Arya holte mich, wie vereinbart ab, damit wir zusammen zum großen Saal gehen konnte.

„Ich kann immer noch nicht so ganz fassen, dass du mich dazu überredet hast", grummelte ich und warf ihr einen bösen Blick zu.

Sie lachte. „Ach, Belle. Je länger du wartest, desto schwieriger wird es. Außerdem ist es nur in Frühstück. Eine Tafel, ein paar Fae, Lords und Ladys, ein paar Diener. Nichts, was du nicht kennst." Sie hakte sich bei mir unter und zog mich mit.

„Das ist so", begann ich.

„Aufregend, intensiv, spannend, heiß?" Arya wackelte mit den Augenbrauen und ich entwand mich lachend ihrem Griff.

„Du bist so unmöglich", beendete ich dieses Mal den Satz, bevor sie mich wieder unterbrechen konnte und den Satz nach ihrem Belieben beenden konnte. Ich betrat den Saal mit einem amüsierten Schmunzeln auf den Lippen und sah mich einmal um. Brokatverzierten Wände, kunstvoll bemalte Decke und funkelnde goldene Kronleuchter.

Arya grinste mich an. Siehst du, sagte ihr Blick, gar nicht so schlimm. Und das stimmte. Nachdem ich einmal erleichtert durchgeatmet hatte, folgte ich Arya zu der Tafel, die mittig aufgebaut worden war. Es waren weniger Fae anwesend, als ich befürchtet hatte und alle waren in ein Gespräch oder auf ihr Frühstück konzentriert und nahmen kaum Notiz von uns.

„So viel Dekadenz", flüsterte Arya mit großen Augen."Meinst du der König kompensiert damit etwas bestimmtes?" Ich prustete los und begann schnell einen Hustenanfall vorzutäuschen als einige Blicke auf uns landeten.

Ich begrüßte Cy und Coilin, doch weil unsere Plätze am anderen Ende der Tafel waren, verschoben wir ein ausführliches Gespräch auf den Abend.

„Guten Morgen", begrüßte Mina uns lächelnd. Heela neben ihr sah aus wie drei Tage Regenwetter und Mina verdrehte die Augen als sie meinen Blick sah. Grinsend setzte ich mich ihr gegenüber und betrachtete das vergoldete Besteck, die handbemalten Teller und die kristallenen Gläser.

„Frag mich, wenn du nicht weißt, wie du die Gabel benutzen sollst." Heela hatte sich mir mit klimpernden Wimpern zugewandt.

„Wie freundlich. Und du kannst gerne Runa um Rat bitten, wenn du deine Frisur ausnahmsweise mal nicht selbst flechen willst", erwiderte ich grinsend und Arya hustete in ihre Servierte.

Heela winkte spöttisch ab. „Wundert mich nicht, dass du den Unterschied nicht kennst. Soldatinnen gehören normalerweise auch nicht an diese Tafel."

„Nur weil du heute Nacht anscheinend nicht mit dem Fae deiner Wahl geschlafen hast, heißt das nicht, dass wir deine schlechte Laune ertragen wollen." Meine Stimme war kühler, abgeklärter geworden und ich beobachtete wie sie leicht zusammenzuckte. Ihre Worte hatten mich getroffen, auch wenn ich es nicht zu zeigen bereit war und ich hatte instinktiv zurückgeschossen. Ich nahm mir etwas Obst und schenkte ließ mir etwas von dem süßen Tee einschenken, bevor ich sie wieder aufsah.

Mina und Heela waren in eine Diskussion verwickelt und ich lehnte mich zu Arya vor. „Ich bin ziemlich sicher, dass er nichts kompensieren muss", flüsterte ich und Arya nickte.

„Ja, das hatte ich schon befürchtet. Hast du das gestern herausgefunden?", fragte sie unschuldig woraufhin ich mich fast an meinem Tee verschluckte. Mit einem warnenden Blick hielt ich sie davon ab mir auf den Rücken zu klopfen.

„Nein, habe ich nicht", sagte ich schließlich mit rauer Stimme. „Es interessiert mich auch nicht", fügte ich sogleich hinzu.

„Also willst du auch nicht wissen, was ich gestern im Flur vor seinen Gemächern gehört habe?" Arya kicherte, als sie meinen Blick auffing, der meine Neugier sofort verriet.. „Ach, Belle. Immer wieder vergisst du, wie gut ich dich kenne."

The Lost PrincessWo Geschichten leben. Entdecke jetzt