Kapitel 30

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Ich begann öfter zu essen und vereinzelt Tagen wagte ich es das Zimmer zu verlassen und durch das Schloss zu wandern. Immer auf der Hut und versteckt vor neugierigen Blicken. Bei einem dieser Spaziergänge fand ich die Bibliothek. Die Quelle der endlos scheinende Bücherstapel, die sich dank Keno in meinem Zimmer häuften.

Als wurde ich magisch von ihr angezogen, hatte mein Weg mich direkt zu den hölzernen Flügeltüren geführt, die dreimal so hoch waren wie ich selbst. Ich verbrachte fast den gesamten Tag damit durch die Bibliothek zu wandern. Ich streifte durch die Gänge, ließ meine Finger über lederne Buchrücken wandern und betrachtete die alten gusseisernen Laternen, die in regelmäßigen Abständen etwas Licht ins Dunkle warfen. Holzverkleidete Wände und Regale, die so hoch reichten, wie mein Blick ließen die Bibliothek unendlich erscheinen. Regal, um Regal, Stockwerk um Stockwerk, drang ich weiter vor.

Ich kam nur langsam voran. Immer wieder hielt staunend inne, sodass es bereits dämmerte, als ich wieder in den Turm zurückkehrte. Ich war mir sicher, dass Vaughn von meinen Ausflügen wissen musste, konnte mir jedoch keinen Reim darauf machen, warum er sie nicht unterband. Doch solange die Tür zu meinem Zimmer unversperrt blieb, würde er mich nicht davon abhalten können. Ganz behutsam formte sich ein neues Ziel vor meinen Augen. Mit jedem Tag fand ich etwas mehr zu mir selbst. Zu der Person, die ich sein wollte. Zu der Person, die ich ohne ihn gewesen wäre.

Keno besuchte mich fast jeden Abend mit dem kleinen Wesen, das er Okku nannte. Mein anfängliches Misstrauen gegen das Tier schwand langsam aber stetig und ich begann zu verstehen, wieso Keno ihn als seinen Gefährten ansah. Dieser kleine Junge mit den blonden Haaren, dem schönen Gesicht und dem stets frechem Ausdruck im Gesicht war meine einzige Gesellschaft. Der einzige, der mit mir redete. Jedenfalls wenn man von Vaughns feindseligen Kommentaren absah, die er mir selten, aber in regelmäßigen Abständen an den Kopf schmetterte. 

Als ich am nächsten Morgen aufwachte, spürte ich eine schwerwiegende Veränderung. Nicht nur, dass es eine der ersten Nächte war, in denen ich Schlaf gefunden hatte. Etwas in meinem Kopf hatte sich gelöst. Etwas bislang Verborgenes war in mein Bewusstsein gedrungen. Nicht so weit, dass es greifbar war, doch insofern, dass ich es spüren konnte. Es löste eine Erleichterung in mir aus, die ich weder begreifen noch benennen konnte. Doch sie war nicht zu leugnen. Ich fühlte mich besser. So leicht, dass ich mit Appetit aß und meine Schritte federleicht waren als ich zur Bibliothek ging. Zum ersten Mal seit Wochen erhob ich den Kopf und trug die Kapuze zurückgeschlagen. Ich wusste, dass ich diese Wärme in meinem Inneren nicht verdient hatte. Dennoch konnte ich nicht anders, als sie zu genießen.

Ich las in verschiedene Büchern. Und landete, wie jeden Morgen, bei den Regalen im obersten Stockwerk der Bibliothek. Hier war die Decke so niedrig, dass ich nur geradeso aufrecht stehen konnte. Maximal zwei dicke Bücher passte zwischen meinen Kopf und der Decke. Ich hatte es ausprobiert.  Hier oben fiel helles Sonnenlicht durch runde Fenster, vor denen sich gemütliche Sitzmöglichkeiten befanden. Alle anderen Plätze waren eher für Studienzwecke gedacht, nur hier oben lag der Fokus mehr auf Bequemlichkeit. 

Die Bücher waren nach Farben sortiert und daher standen alte Märchen neben Geschichtslektüren, Gedichtsbänden und historischen Romanen. Das Buch, in das ich immer wenigstens einen kurzen Blick hineinwarf, besaß einen weinroten Einband. Die Schrift war golden und so verschnörkelt, dass der Titel schwer zu entziffern war. Ich konnte die Schrift nicht einmal lesen, die abwechselnd in roter und schwarzer Tinte geschrieben stand, doch etwas an diesem Buch faszinierte mich. Etwas an der schwungvollen Schrift und dem ersten Buchstaben auf jeder Seite der besonders groß und verziert ausgearbeitet war, zog mich zu diesem Buch wie Leuchtwürmer zu Licht.

Ich nahm nie etwas mit, wagte es nicht auch nur ein Buch an den falschen Platz zurück zu stellen und presste mich in eine der zahlreichen steinernen Nischen, sobald ich den Eindruck hatte etwas zu hören.

Ich wanderte weiter, genoss das Gefühl des warmen Einbands in meiner Hand und den Stoff des weichen Kleids, das um meine Beine strich. Nicht zum ersten Mal fragte ich mich, was Vaughn mit meinem Aufenthalt hier bezwecken wollte. Mich als Einsatz gegen meinen Vater zu verwenden war eine Möglichkeit, aber die hätte er schon längst ausspielen können. Als ich mich weiter von der Treppe entfernte und tiefer in das oberste Stockwerk eindrang, entdeckte ich in der Mitte der Etage zahlreiche gläserne Vitrinen. 

Sie waren gefüllt mit besonders alten Büchern, vergoldeten Füllfederhaltern und einigen prächtigen Schriftrollen. Ich liebte diesen Ort auf Anhieb. Heute mehr als den Tag davor. Hier fühlte ich mich niemals einsam, was komisch war, da ich so allein war, wie man nur sein konnte. 

Meine Sinne nahmen das Beben in der Luft augenblicklich wahr. Ich hielt inne, visierte die nächstgelegene Nische an und schlicht lautlos in ihren Schatten.

Doch noch bevor ich ihn erreichte, wusste ich, dass es zu spät war. Ich hielt seufzend inne und drehte mich mit erhobenem Kinn um. Zwischen den Vitrinen und in dem spärlichem Licht, dass bis hierher reichte, stand Vaughn. Selbst die Decke schien sich seiner Größe anzupassen, mühelos bewegte er sich auf mich zu, lehnte sich an eins der Regale und überkreuzte lässig die Beine.

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Wollt ihr noch ein Kapitel heute Abend?♥

The Lost PrincessWo Geschichten leben. Entdecke jetzt