Kapitel 52

93 16 2
                                    

Der Aufstieg war definitiv mühsamer als ich vermutet und befürchtet hatte. Ich musste mich von Alessandro verabschieden, als wir erst einen halben Tag unterwegs gewesen waren. Jetzt, wo ich bereits seit drei Tagen unterwegs war, wuchs meine Anspannungen mit jedem Augenblick. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass dieses Unterfangen so viel Zeit in Anspruch nehmen wurde. Zeit, die ich nicht hatte.

Zudem war der Weg überaus beschwerlich. Um Zeit zu sparen, hatte ich gar nicht erst begonnen, steile Berge oder Flüsse zu umgehen, Sondern war immer dem direkten Weg gefolgt, über den Berg hinauf, durch den Fluss hindurch. Und das war kräftezehrend. Trotzdem genoss, ein kleiner und durchaus sadistischer Teil von mir, diese extreme Anstrengung, die mich dazu brauchte, abends besser schlafen zu können als die letzten Jahre. Dazu war es meine bewusste Entscheidung diesen Weg selbst gehen zu wollen, auch wenn es sich als Fehler heraus stellen sollte. Ich war hier, weil ich mich dazu entschieden hatte.

Wenn die Dämmerung einbrach, suchte ich mir zuerst eine klare Quelle, dann essbare Früchte und Wurzeln und anschließend einen geschützten Schlafplatz. Bisher lief alles irritierend reibungslos, aber ich verließ mich nicht darauf, dass das so bleiben würde. Die einzigen magischen Wesen, denen ich bisher begegnete, waren scheue Waldfeen, die, sobald ich sie gesehen habe, sofort wieder im Unterholz verschwanden. 

Ich stieg zum Ufer eines Fluss runter, der nicht ganz so harmlos wie die vorherigen aussah. Er war deutlich breiter und wilder. Ich konnte Stromschnellen und Strudel sehen, die dem tückischen Meer in nichts nachstanden. Das könnte ein Problem werden. Unschlüssig setzte ich einen Fuß ins Wasser, nur um festzustellen, dass ich mir auf jeden Fall eine andere Art der Überquerung suchen müsste, wenn ich lebend darüber kommen wollte. 

In den wenigsten Karten von Helena, die ich mir angesehen hatte, war diese Gegend eingezeichnet und wenn nur so ungenau, dass sie mir jetzt definitiv keine Hilfe waren. Ich musste mich für eine Seite entscheiden und wusste nicht anhand welcher Faktoren ich dies tun sollte. Es raschelte hinter mir und wieder erspähte ich die Knopfaugen und hellen pastellfarbenen Flügel einer Elfe.

„Wäre es Euch möglich mir zu sagen in welche Richtung ich gehen muss?", fragte ich resigniert und war nicht weiter verwundert, als die Elfe verschwunden war, noch bevor ich ausgesprochen hatte. „Dann nicht", grummelte ich und setzte mich auf einen Stein, der nahe der Stelle lag, an der ich die Elfe gesehen hatte. Im Schatten eines einzelnen hohen Baumes schloss ich für einen Moment die Augen und versuchte die einzelnen Karten hervor zu beschwören.

Dann hörte ich ein Geräusch, dass so gar nicht zu diesem verlassenen Ort passen wollte. Es war ein helles, weibliches Lachen. Nur wenig später stolperte ein Pärchen auf die Lichtung, Arm in Arm und ohne irgendetwas außer dem anderen wahrzunehmen. Mit gerunzelter Stirn wartete ich darauf, dass einer der beiden mich bemerkte. Als sie sich jedoch händchenhaltend ans Flussufer setzten, konnte ich wohl nicht mehr damit rechnen.

Ich stand auf, klopfte meine Hosen ab und stellte mich an die Böschung. „Kann einer von euch mir sagen, wo lang ich gehen muss, um zu den Hexen zu gelangen?" Damit hatte ich ihre Aufmerksamkeit. Wenigstens etwas. Beide entpuppten sich als nicht viel älter als ich. 

„Wer bist du?", fragte das Mädchen. Sie hatte keine spitzen Ohren und auch sonst trug sie kein Merkmal der Fae, aber sie hatte definitiv keine Angst, was mich aufmerksam werden ließ.

„Ist das relevant? Könnt ihr mir helfen, oder nicht?" Der junge Mann flüsterte dem Mädchen etwas zu und unterließ es dabei nicht mit einer ihrer schwarzen Strähnen zu spielen.

„Hast du Gold?" Der Blick des Mädchens sagte, dass sie die Antwort bereits kannte.

„Eine Münze und du bringst mich zu ihnen."

„Okay." Leichtfüßig sprang sie auf und streckte, oben angekommen, ihre Hand aus. 

„Hier." ich zeigte ihr die Goldmünze und ließ sie wieder in meiner Tasche verschwinden. „Sobald wir da sind, bekommst du sie."

Das Mädchen lachte und zuckte mit den Schultern. „Okay." Kurz verweilte ihr Blick auf mir, dann bedeutete sie mir ihr zu folgen. 

Wir blieben am Fluss und obwohl es bereits dämmerte, lief das Mädchen unbeirrt weiter. Auch der junge Mann schien sich keine Gedanken um die Dunkelheit und die damit verbundenen Gefahren zu machen. 

Als die Schritte des Mädchens schneller wurden und die des Jungen zögerlicher, fragte ich mich das erste Mal, ob dies die richtige Entscheidung gewesen war. 

Wir liefen nun schon eine ganze Weile nicht mehr am Fluss entlang, sondern am Fuß eines hohen Berges entlang. Er schien rund zu sein und der Weg unter unseren Füßen wirkte nicht mehr ganz so verwildert. Seine Oberfläche war nahezu eben, als wäre er bereits von dutzenden Schritten geglättet worden. Durch eine schmale Höhle betraten wir das Innere des Bergs. 

Nun war es offiziell. Ich hatte ein Problem. 

Das Mädchen ging nun hinter mir und wollte mir wohl damit verdeutlichen, dass der Rückweg versperrt war. Ließen wir sie mal in dem Glauben. 

Nach einigen scharfen Ecken, die ich mir in weiser Voraussicht merkte, mündete der schmale Gang und gab den Blick frei. Ich blieb stehen, voller Unglauben, sah ich, was sich in diesem Berg befand.

Unzählige Höhlen gingen vom Inneren des Berges ab. In der Mitte befanden sich einige Wiesen mit Tieren, Gärten voller Blumen oder Kräutern und einige schlichte Gebäude. Hoch über uns kreischten schwarze Federtiere und aus den Höhlen, die meistens mit einer Art Balkon versehen waren, traten Hexen.

Das schwarzhaarige Mädchen grinste und streckte ihre Hand aus. Ich gab ihr die Münze und sah zu, wie sie zu einem der Gebäude ging und mit dem Jungen darin verschwand. Großartig. Einfach nur großartig.

The Lost PrincessWo Geschichten leben. Entdecke jetzt