𝟔𝟎. 𝐊𝐚𝐩𝐢𝐭𝐞𝐥

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»Ich bin die Nächste«

Erst als ich diese Worte über meine Lippen brachte, realisierte ich erst, was sie bedeuteten. Ich würde als Nächste in das Direktorat reingehen müssen und würde erfahren, ob ich meine Abschlussprüfungen bestanden hatte, oder ob ich sie nicht bestanden hatte. Nervös spielte ich mit meinem Armband herum. Jede Sekunde zog sich in die Länge und mein Hals wurde augenblicklich trocken.

»Du tust ja so, als würdest du nicht bestehen«, lachte Molly neben mir und hielt kurz inne. Sie war nämlich gerade dabei, sich die Lippen nachzuziehen. Der rote Lippenstift stand ihr tatsächlich, aber ich wäre im Leben nicht darauf gekommen, mir in dieser Sekunde meine Lippen anzumalen. »Du bist sowieso die Jahrgangsbeste. Und ich bin stolz auf dich. Also hör auf nervös zu sein und freu dich. Mach dir keine Sorgen, Bestie«, fügte sie hinzu und schminkte sich weiter.

»Nur weil ich gute Noten schreibe, heißt das nicht, dass ich meinen Abschluss bestanden habe, Molly«, erwiderte ich schmunzelnd und schon wieder hielt sie inne. Diesmal verdrehte sie ihre Augen und schaute mir direkt in meine Augen. »Du hast so viel gelernt. Wir haben so viel gelernt. Wenn das nicht gereicht hat, dann weiß ich auch nicht. Außerdem bist du ein Naturtalent. Jetzt hör auf so einen Blödsinn zu reden. Ich werde sonst auch nervös«

»Tut mir leid« Ich lachte leise auf und ließ mein Armband los. Ich atmete tief ein und aus, während ich ihr weiterhin dabei zusah, wie sie sich fertig machte. Sie war schon bei der Wimperntusche angekommen. Molly schminkte sich nicht einfach so. Die letzten Tage hatte sie tatsächlich hinterfragt, ob sie die Prüfungen bestanden hatte. Ihr Motto war also: Wenn sie schon nicht bestanden hatte, dann sollte sie wenigstens schön dabei aussehen, sobald sie es gesagt bekommen würde. Sie tat gerade vielleicht so, als würde sie nicht nervös sein oder sich darum Sorgen, aber insgeheim tat sie es.

»Themawechsel! Ich weiß, dass du nicht drüber reden willst aber du musst«, fing sie an und ich seufzte auf. Nicht schon wieder. Gerade jetzt wünschte ich mir, Mrs. Brown würde aus dem Klassenraum treten und mich zu sich rufen. »Molly, nein. Bitte hör endlich auf damit«

Meine Hand fand ihren weg ganz von allein zu meinem Armband und ich hätte sie augenblicklich erwürgen können. Ich wurde nervös, mein Magen zog sich zusammen und ein unwohles Gefühl kam in mir auf.

»Ava Maria Johnson«, fing sie tadelnd an und legte ihre Mascara und den kleinen Spiegel zurück in ihre Tasche. Ihre ganze Aufmerksamkeit lag auf mir. »Wir reden jetzt darüber. Ich finde die Entscheidung, die du getroffen hast, nicht gut«

Ich selbst fand meine Entscheidung nicht gut. Schlimm. Zum Kotzen, wenn ich ehrlich sein durfte. Aber es war eine Entscheidung, die ich eben getroffen hatte. Eine Entscheidung, die mir mehr als nur schwerfiel, wenn ich daran dachte, was passiert ist.

»Im Ernst Molly, das ist das Letzte, worüber ich gerade reden will. Ich werde nicht hingehen, egal wie oft du mit mir darüber redest« Natürlich ging es um Leo. Nicht speziell um ihn, aber um Lias Hochzeit, die morgen anstand.

Nachdem ich den Vertrag zerrissen und weggeschmissen hatte, ging ich nach Hause und weinte mich bei Molly aus. Es brauchte ein paar Tage, bis ich realisiert hatte, dass ich weder Leo, noch die Firma oder die Anderen jemals wieder sehen würde. Ich hatte es beendet und ich musste versuchen irgendwie damit zurechtzukommen, dass es auf diese Art und Weise geendet ist. Ein paar Tage vergingen und ich hatte nichts mehr von Leo gesehen oder gehört. Er hatte mich nicht angerufen oder mir geschrieben. Ich redete mir ein, dass ich mir das gar nicht erst erhoffte, und auch zu Mary und Molly sagte ich ständig, es wäre mir egal - aber innerlich wünschte ich mir jede Sekunde, seinen Namen auf meinem Display erscheinen zu sehen.

Einen Monat später war ich mit meinem Bericht fertig und veröffentliche diesen in unserer Schülerzeitung. Eine Kopie von dieser wurde an Leo geschickt, aber nicht einmal darauf reagierte er. Ich wusste nicht, ob er ihn gelesen oder mich schon längst vergessen hatte. Ich tendierte zu Letzterem und erst nach mehreren Wochen und unter Klausurstress fing ich an, zu akzeptieren, dass mein Leben weitergehen konnte. Und dass mein Leben weitergehen musste. Die erste Zeit danach war komisch. Ich vermisste Leo, wollte viel zu oft einfach in die Firma rein marschieren und versuchen, ihn doch von mir zu überzeugen. Ich hielt mich trotzdem zurück. Irgendwann, mit der Zeit, wurde es besser. Ich konzentrierte mich auf meine Abschlussprüfungen und lernte zur Ablenkung sehr viel mit Molly. Wir schrieben die Prüfungen und ich dachte immer weniger an Leo und das, was zwischen uns passiert war. Bis ich einen Brief bekam.

Es war die Einladung zu Lias Hochzeit. Sie hatte mir zusätzlich einen kurzen Brief geschrieben, in welchem stand, wie sehr ich ihr doch fehlen und wie gerne sie mich am schönsten Tag ihres Lebens wiedersehen würde. Molly versuchte mich seit dem Tag davon zu überzeugen, hinzugehen. Nicht Leo zuliebe, auch nicht mir zuliebe. Sondern Lia zuliebe. Sie wusste, dass Lia mir irgendwie ans Herz gewachsen war und dass Lia sich sehr freuen würde, wenn ich sie auf ihrer Hochzeit besuchen würde. Aber ich brachte dies nicht über mich. Ich konnte einfach nicht daran denken, hinzugehen und ihn wiedersehen zu müssen.

Ich hatte mich gegen diese Welt entschieden. Gegen die Welt mit Leo, der Firma und alldem, was diese mit sich zog. Ich hatte mich gegen ihn und für mich entschieden. Seit drei Monaten habe ich kein einziges Wort mit Leo gewechselt und war nicht bereit, ihm einfach so über den Weg zu laufen. Leo gehörte zu meiner Vergangenheit und ich wollte nicht, dass diese wieder zu meiner Gegenwart wird. Noch einmal würde ich diesen Schmerz nicht aushalten und ob ich glücklich wäre, bei ihm zu arbeiten und ihn jeden Tag sehen zu müssen, wusste ich auch nicht.

Wenn ich mich doch schon davor fürchtete, ihm auf der Hochzeit zu begegnen, wie würde ich dann für ihn arbeiten können? Jeden einzelnen Tag?

»Ich weiß, dass du nicht hingehen möchtest und ich weiß auch warum. Aber denk doch an Lia«, dieses Argument benutzte sie seitdem die Einladung ankam viel zu oft und ich schüttelte meinen Kopf, um ihr zu demonstrieren, dass ich wirklich keine Lust auf dieses Gespräch hatte. Ich wusste, dass es keine gute Idee gewesen ist, vor diesem Problem zu flüchten - aber irgendwie schien das mein einziger Ausweg zu sein. Zu flüchten, zu verdrängen und zu ignorieren. Anders würde ich nicht zurechtkommen.

»Okay, du bist verletzt. Leo ist ein Arschloch, dass wissen wir alle. Und wenn ich ihn sehe, werde ich ihm eine reinhauen. Aber ich finde es nicht richtig, dass du morgen nicht auf diese Hochzeit gehst. Ich habe eine Idee und ich will, dass du sie dir anhörst.«

Es folgte einen kurze Pause und eine angespannte Stille, ehe sie zum Reden ansetzte. »Ich werde mitkommen. Und ich werde auch Mary fragen, ob sie mitkommt«, meine Augen weiteten sich und ich wollte sie am liebsten anschreien, doch mit der Fortsetzung ihres Monologs schnitt sie mir das Wort ab, ehe ich es überhaupt aussprechen konnte. »Wir ziehen schöne Kleider an, kaufen Lia morgen früh ein Hochzeitsgeschenk, schminken uns und gehen dorthin. Alle zusammen. Erstens, damit du Leo zeigst wie heftig du aussiehst und zweitens, damit Lia nicht traurig darüber sein muss, dass du sie an ihrem Tag nicht unterstützt hast.«

Ich musste seufzen. Sie hatte ja recht. Lia hatte mir ein paar Nachrichten geschickt, unter anderem hatte sie gefragt ob die Einladung ankam. Ich hatte ihr nie geantwortet. Ich kam mir vor als wäre ich die Böse und ich wusste, dass es gemein von mir war ihr nicht zu antworten, aber ich wusste doch selbst nicht wie ich damit umgehen sollte. Drei Monate waren seither vergangen und trotzdem war ich keinen Schritt weiter. Noch schlimmer, ich schien Rückschritte zu machen und nicht mit der Tatsache klarzukommen, dass Leo mir gesagt hatte, dass er mich nicht liebte.

»Ava Johnson«, ertönte Mrs. Browns Stimme am Ende des Ganges. Jetzt hatte ich keine Zeit mehr um mit Molly darüber zu diskutieren, ob ich hingehen sollte oder nicht. Natürlich sollte ich es. Ein mulmiges Gefühl machte sich in mir breit. Ich stand auf und schaute einen kurzen Moment zu Molly, bevor ich Mrs. Brown hinterherging.

»Okay, wir gehen hin«

the interview | ✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt