𝟒𝟗. 𝐊𝐚𝐩𝐢𝐭𝐞𝐥

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»Ava!« Seine männliche Stimme ließ noch immer einen unangenehmen Schauer über meine Haut fahren und ich versuchte meine großen und schnellen Schritte zu verschnellern und mich nicht von ihm aufhalten zu lassen. Ich hatte keine Antworten auf seine Fragen. Ich wusste nicht, ob ich es mir wirklich antun sollte, mein Leben lang in einer Firma für einen Mann arbeiten zu müssen, welcher mir zum ersten Mal in meinem Leben mein Herz gebrochen hatte, welcher mich reingelegt hatte und welcher mir, ohne sein Gesicht auch nur einmal zu verziehen, etwas vorgemacht hatte. Hatte er das? Meinte er seine Worte ernst oder hatte er mich nur ins Bett kriegen wollen? Ich hatte keine Antwort auf meine Fragen.

Er hatte mir eine Show vorgespielt. Ohne darüber nachzudenken, war ich aus seinem Büro geflüchtet und suchte vergeblich nach einem Ort, an welchem ich endlich erleichtert durchatmen konnte. Aber nicht einmal mein eigenes Zuhause konnte mir dieses Gefühl gewähren. »Hör..« Ich atmete tief ein und aus um den schweren Kloß in meinem Hals herunterzuschlucken, aber es schien nichts zu bringen. »Hör endlich auf damit, Leo. Hör auf damit. Du willst doch nichts von mir oder? Es ist doch schon alles gesagt also bitte, hör auf damit« meine Schritte verlangsamten sich und schließlich kam ich zum Halten. Ich atmete etwas aufgebracht ein und aus und traute mich gar nicht, mich wieder zu ihm zu drehen, denn ich würde mich viel zu schnell in seinem Anblick verlieren. Genau so wie jedes Mal zuvor auch.

»Ava, wovon redest du?« Er legte seine Hand auf meine Schulter und obwohl ich seine Berührungen nur so ersehnte, schreckte ich zurück. Er drückte nicht zu fest, ganz im Gegenteil, seine Hand fühlte sich sanft an, doch plötzlich überkam mich ein Gefühl von Hilflosigkeit, fast schon Panik. Augenblicklich wirbelte ich herum und traute mich endlich, in sein Gesicht zu sehen, in seine Augen, welche verwirrt mein Gesicht musterten und mich nur so daran erinnerten, wie sehr er mich jedes mal aufs Neue verletzte. »Ich rede von uns, von.. von dir und mir meine ich, es... es gibt kein uns«, sprudelte es nur so aus mir heraus und die ganzen negativen Erinnerungen der letzten Tage kamen in mir hoch. Der Streit mit Leo, der Mann in der Bar, die geheime Beziehung zwischen meinem Bruder und meiner besten Freundin, die Lügen und Geheimnisse von Leo, all das schien mir eine größere Last zu sein, als ich wahrhaben und zulassen wollte. Ich spürte die heißen Tränen in meinen Augen, die ich in dieser Sekunde nicht mehr zurückhalten konnte. Sie schossen meine Wangen förmlich herunter und ich schluckte, um nicht auch noch meine Stimme zu verlieren.

»Ich kann dir keine Antwort auf deine Fragen geben Leo, ich weiß noch nicht einmal was gerade in mir vorgeht, weil du mir wehtust. Ich.. Ich muss nach Hause, bitte entschuldige mich für den Tag«, murmelte ich leise, während ich mich wieder umdrehte und versuchte, ohne ein weiteres Wort seinerseits in den Aufzug zu flüchten. Ich drückte den Fahrstuhlknopf und wartete sehnlichst, um endlich von hier verschwinden zu können, denn ich hatte Leo schon wieder gezeigt, wie sehr er mich geschwächt hatte.

»Ava, bitte warte!«, kam es von Leo. Seine tiefe, eigentlich standhafte Stimme schien fast schon angeschlagen. Während ich mir verzweifelt versuchte meine Tränen wegzuwischen, drehte ich mich um, nur um fest zu stellen, dass er, ohne das ich es bemerkt hatte, schon direkt vor mir stand und mir nun tief in meine verweinten Augen schaute.

»Es tut mir leid« Seine tiefe Stimme ging mir unter die Haut und ich zuckte ganz leicht zusammen, nachdem er diese Worte sagte, nicht wissend, ob sie ernst gemeint oder nur so dahergesagt waren. »Ich bin ein Idiot Ava, ich weiß das. Aber es tut mir weh dich so zu sehen. ich will dich nicht verletzen, okay? ich will nur, dass wir beide uns voneinander fern halten, das weißt du doch«

Seine weiche Hand fand nun vorsichtig ihren Weg zu meiner Wange und er schien nicht zu wissen, ob es in Ordnung für mich gewesen ist, dass er diese Geste ausführte, denn er legte sie nur ganz leicht an meine Wange. Sie war kaum spürbar, aber sofort machte sich die altbekannte Wärme einen Weg durch meinen ganzen Körper. Ich fühlte mich nicht besser, aber verlor mich wieder in seinen Berührungen. Meine Augen fanden seine und ich fühlte mich besser, obwohl nichts besser gewesen ist. Diese Anziehung, diese verdammte Anziehung die von Leo ausging zog mich wieder in ihren Bann, welchem ich nicht entfliehen konnte. Sie sorgte dafür, dass meine Gefühle nicht verschwanden, sondern stärker wurden.

»Ist schon okay. Ich sollte nach Hause, Leo. Bitte« ich räusperte mich und versuchte mir die weiteren, sich annähernden Tränen zu unterdrücken, während er mir verständnisvoll nickte und mir mit seinen warmen, weichen Lippen einen sanften Kuss auf die Stirn drückte.

»Ruh dich aus. Aber wir sollten bald reden Ava, darüber was passiert ist«, kam es von ihm, während ich mich schon längst in den Aufzug gestellt hatte und den Knopf gedrückt hatte, um endlich von hier verschwinden zu können. »Nicht jetzt, Leo. Aber bald. Das zwischen uns tut mir nicht gut« ich erzwang mir ein Lächeln, welches jedoch augenblicklich wieder verschwand, als die Türen sich schlossen und ich alleine im Fahrstuhl zurückblieb.

»Ava! Süße!« Etwas verwirrt wirbelte ich herum, als ich meinen Namen durch den ganzen Eingangsbereichs des Unternehmens schallen hörte. Ein kleines Lächeln schlich auf meine Lippen als ich erkannte, dass Lia geradewegs auf mich zu kam. »Hey, wie geht es dir?« Ohne mich vorzuwarnen schlang sie ihre Hände um mich und zog mich in eine lange, fest Umarmung. Ich genoss sie, da ich genau jetzt bemerkte, wie traurig und erschöpft ich wirklich gewesen bin - ihre Umarmung tankte mich wieder ein wenig mit Energie.

»Besser. Danke Lia. Wie geht es dir?« Ich versuchte noch immer mein gezwungenes Lächeln aufrecht zu erhalten, schließlich wollte ich nicht, dass sie bemerkte wie schlecht es mir ging und das sie sich obendrauf noch Sorgen machte. »Ach, es ist stressig wieder zurück sein. Papierkram, Papierkram, Papierkram. Sag mal, wohin gehst du?«, fragte sie nun neugierig und ich deutete leicht lächelnd auf den Ausgang. »Ich gehe früher nach Hause. Ich habe.. Kopfschmerzen« ich räusperte mich und bemerkte, dass sie zu bemerken schien, dass das gar nicht stimmte. Manchmal fragte ich mich, ob ich wirklich nicht lügen konnte, oder ob es bei den Adams Geschwistern im Blut lag, meine Augen wie ein offenes Buch lesen zu können. Vielleicht war das ja diese Zwillingsverbindung oder so.

»Geh dich ausruhen. Heute Abend unternehmen wir nämlich etwas zusammen und dafür musst du ausgeschlafen sein. Sei um acht vor deinem Haus« ohne eine Antwort von mir zu erwarten, setzte ihr Körper wieder in Bewegung und sie ging in die andere Richtung weiter. Etwas verwirrt rief ich ein »Wie??« hinterher, doch sie zwinkerte mir noch ein letztes Mal zu, bevor sie um die Ecke verschwand und mich verdutzt schmunzelnd zurückließ.

Auf dem Weg nach Hause schaute ich erstmals auf mein Handy, um kurz auf andere Gedanken zu kommen, was sich als nicht gerade schlau erwies, schließlich hätte ich damit rechnen müssen, dass Molly mich mit Anrufen und Nachrichten nur so bombardierte.

»Bitte ignorier mich nicht«

»Ava, es tut mir leid. Können wir reden?«

»Bitte heb ab«

Ich machte mein Handy schnell aus und steckte es wieder zurück in meine Jackentasche. Während ich mich versuchte durch den vollen Bürgersteig zu kämpfen, konnte ich einfach nicht verstehen, wie es sein konnte, dass Molly mit meinem Bruder Alex zusammen war. Was sah sie nur in ihm? Und wieso konnte er mich noch immer nicht leiden? Fragen über Fragen schwirrten in meinem schmerzenden Kopf herum und es fühlte sich so an, als würden sie im sekündlichen Takt gegen meinen Kopf knallen. Ich hatte unglaubliche Kopfschmerzen und hatte das Gefühl, mein Kopf würde jeden Moment explodieren, wenn ich nicht sofort aufhören würde, nachzudenken.

Ich war froh, Zuhause zu sein und machte mich flott auf den Weg in mein Zimmer, um mich müde und kaputt auf mein Bett zu schmeißen. Es war gerade mal elf Uhr morgens und ich fühlte mich, als hätte ich den ganzen Tag geschuftet. »Ava, was machst du denn schon hier?«, ertönte es hinter mir und seufzend drehte ich mich zu meiner Stiefmutter um. »Ich bin früher entlassen worden. Ich habe Kopfschmerzen«, gab ich kurz wieder und wollte gerade meine Zimmertür schließen, doch sie stellt sich vor mich und musterte mich genau.

»Wie geht es dir, Ava?« Mary legte besorgt ihre Hand auf meine Stirn, wahrscheinlich um nachzuschauen, ob ich an Fieber litt. Aber das tat ich nicht. Ich hatte mal in einem Buch gelesen, dass die Psyche viel mit einem Menschen ausrichten kann. Das es einem nicht gut gehen kann, wenn die Psyche angeschlagen ist. Und erst jetzt verstand ich, was damit gemeint war. Denn ich fühlte es. Ich fühlte diesen innerlichen Schmerz, obwohl es mir physisch mehr als nur gut ging. »Mary, nimm es mir nicht übel, aber.. ich möchte gerade nicht reden«, brachte ich so nett ich nur konnte heraus und schaute in ihre traurigen Augen. Es berührte mich, dass sie sich Sorgen um mich machte und mich mittlerweile behandelte, als wäre ich ihre leibliche Tochter. Trotzdem konnte ich mich gerade nicht auf den Gedanken konzentrieren, eine Mama gefunden zu haben. Mein Herz schmerzte.

»Ich verstehe das, Ava. Kommst du denn trotzdem mit?« etwas verwirrt schaute ich sie an und dann fiel es mir wieder ein. Das hatte ich total vergessen. »Der Arttermin«, murmelte ich und nickte leicht. »Na klar, bin dabei«

the interview | ✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt