25. Kapitel - Violet

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Violet Elaine Craig

Ich weiß nicht, was mit mir los ist. Warum ich ihn hier reingezogen und noch viel weniger, warum ich ihn geküsst habe. Mehr als ein Mal. Aber es war schön. Genau genommen ist es das sogar noch.

Er steht noch immer vor mir, hält Abstand, doch sein Atem geht genau so schnell wie meiner. Seine schönen, blauen Augen durchsuchen meine nach einer Antwort, denke ich. Sie wirken dunkler als sonst, seine Pupillen sind geweitet. Ich weiß genau, was das bedeutet. Er will dasselbe wie ich, und zwar noch viel mehr als nur einen Kuss, auch wenn ich das niemals aussprechen würde.

Gleichzeitig versteht er nicht, warum ich am Sonntag und gestern noch Abstand wollte und ihn jetzt geküsst habe. Ich allerdings auch nicht.

>Das macht es nicht unbedingt leichter, mich von dir fern zu halten.< Sein Mundwinkel zuckt, er lächelt beinahe. Seine Stimme klingt dunkel, rau. Meine Wangen werden rot, weil ich verlegen bin, das weiß ich und ihn lässt es lächeln.

Jemanden zu küssen ist immer etwas Besonderes für mich. Es hat Monate gedauert, bis ich Luca einfach so küssen konnte. Normalerweise bin ich da recht unsicher und warte immer auf ein winziges Nicken oder eine andere Art der Einverständniserklärung. Diesmal habe ich mir einfach genommen, was ich wollte und ich bin mir noch nicht sicher, ob das eine gute Idee war. Ich habe das Gefühl, dass er noch etwas sagen will, doch stattdessen küsst er mich, seine weichen Lippen liegen wieder auf meinen.

Dazu kommt er ganz zu mir herunter, damit ich mich nicht strecken muss, dann streicht er mit seiner Zunge über meine Lippen und ich öffne sie, lasse ihn gewähren. Das macht den Kuss augenblicklich intensiv und mir entfährt ein Seufzen. Meine Hände liegen nach wie vor in seinem Nacken, halten ihn ganz nah bei mir. Das hier ist irgendwie berauschend und einfach wunderschön.

Ich bin aufgeregt, mein Herz schlägt schnell. So habe ich es mir früher immer vorgestellt, wenn mir jemand erzählt hat, wie es ist, den richtigen zu küssen. Den einen, der einfach perfekt zu dir passt.

Ich wurde schon so geküsst, also mit Zunge. Luca und ich haben das manchmal gemacht, es ist also nicht ungewohnt für mich. Trotzdem ist es irgendwie vollkommen anders. Es fühlt sich besser an, aber auch intimer. So als wären meine Gefühle damals nichts im Vergleich zu dem, was jetzt alles in mir vorgeht.

Mein summendes Handy sorgt dafür, dass er aufhört. Sofort will ich ihn zu mir zurückholen, diese wundervollen Gefühle weiter genießen, aber er weicht noch weiter zurück, lässt seine Hände sinken und macht meine sanft von sich los. Dazu zieht er ganz sanft an meinen Handgelenken, bleibt aber bestimmt, als ich versuche, sie genau da zu lassen, wo sie sind.

>Geh ran. Wir müssen sowieso los<, erklärt er leise, sieht mich noch einen Moment lang an, dann hebt er sein Handtuch auf und geht. Es fühlt sich komisch an, ihn gehen zu lassen, aber ich kann mir auch nicht vorstellen, ihn zurück zu rufen. Dabei fällt mir auf, dass die Tür die ganze Zeit über nicht abgeschlossen war und mein Herz kollabiert fast. Wenn uns jemand gesehen hätte, wäre das eine Katastrophe gewesen.

Mein Handy fängt erneut an zu summen, darum sehe ich nach, wer es ist, hebe ab und versuche meine Schuldgefühle zu ignorieren. Ich habe grade meinen Lehrer hier reingezogen und geküsst. Das war mehr als nur nicht in Ordnung und wer weiß, was passiert wäre, wenn Tristan uns nicht mit seinem Anruf unterbrochen hätte.

>Hallo Tristan.< Ich klinge sogar schuldbewusst, obwohl er nichts davon wissen kann.

>Wo bist du? Der Unterricht geht in zwei Minuten los<, beschwert er sich und ich versuche meine Gedanken zu sortieren. Ich habe mir Zeit gelassen beim Duschen, das weiß ich, aber nicht so lange. Es dürfte noch nicht so spät sein. Allerdings kann ich auch unmöglich sagen wie lange Herr Lesharo mit mir hier drinnen war, was direkt dafür sorgt, dass ich hoch rot anlaufe.

>Bin auf dem Weg, bis gleich.< Das ist nicht so richtig gelogen, denn ich habe tatsächlich meine Schwimmtasche über die Schulter gehängt und mache mich direkt auf den Weg in die Schule. Dabei weigere ich mich zurückzusehen, verbiete mir jede Erinnerung an diesen schönen Moment.

Das darf nicht sein. Er und ich, das geht nicht. Es ist nun mehr als offensichtlich, dass wir beide dasselbe wollen, aber das ändert nichts an den Tatsachen. Er ist mein Lehrer und wenn das jemand herausfindet, selbst, wenn es bei diesem Kuss bleibt, haben wir beide nicht gerade ein kleines Problem. Ich kenne die Konsequenzen nicht genau, aber neben meinem zukünftigen Ruf als zweite Penny würde er sehr wahrscheinlich seinen Job verlieren und das will ich auf keinen Fall.

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>Das ist so unfair<, meckert Penny unvermittelt, mitten in der vierten Schulstunde. Herr Zuber, unser Lehrer in Biologie, beachtet sie nicht weiter, was nachvollziehbar ist. Penny war zu spät, genau wie ich, aber sie hat sich nicht entschuldigt, ist zu ihrem Platz gegangen und hat mit ihrem Handy gespielt. Darum hat sie auch eine Strafarbeit bekommen und ich nicht.

>Grins nicht so selbstgefällig<, flüstert Tristan, ich dagegen deute zu unserem Lehrer. Der hat nämlich unglaublich gute Ohren und ihn sofort erwischt. Herr Zuber belässt es aber bei einem kurzen, bösen Blick und macht weiter mit dem Unterricht. Auch Tristan passt auf und ich gebe mein Bestes, aber mein Kopf will nicht.

Das heißt, mein Kopf will schon, aber dann erinnert sich mein Körper daran, welche neuen Gefühle er heute kennengelernt hat.

Was in mir vorgeht, wenn ich Herr Lesharo berühre, ist irgendwie nicht so richtig in Worte zu fassen. Mir ist fast das Herz aus der Brust gesprungen, dabei hat er mich einfach nur festgehalten und vor dem Ertrinken gerettet. Unsere Haut hat sich berührt, aber technisch gesehen war nichts dabei. Zumindest nichts Gefühlsmäßiges im romantischen Sinne.

Und dann war da noch dieser Kuss. Ich denke immer wieder darüber nach, vergleiche meine einzigen, beiden Erfahrungen, aber es ergibt keinen Sinn. Gut, ich habe schon mehr als zwei verschiedene Typen geküsst, aber nicht mit Zunge und auch nicht in einer annähernd vergleichbaren Situation. Demnach gibt es nur Luca und Ash.

Mit Luca war ich sechs Monate lang zusammen und trotzdem hatte ich diese extremen Gefühle nie. Das heiß, im Bett mit ihm hat mein Herz schon mal über die Stränge geschlagen und es gab vereinzelte Momente, die wunderschön waren.

Zum Vergleich habe ich nur das Berühren meines Rückens mit der Brust von Ash und das nicht nackt in einem Bett, sondern einem öffentlichen Schwimmbad und in Kombination mit einem Krampf. Trotzdem zittern jetzt noch meine Hände, wenn ich daran denke, wie aufgeregt, nervös und überfordert ich in dem Moment war.

Plus die Sache in der Kabine. Und ich bin auch jetzt, eine Stunde später, immer noch der Meinung, dass es der beste Kuss meines Lebens war. Was ich nicht verstehe. Überhaupt nicht.

Grundsätzlich bin ich der festen Überzeugung, dass man nur jemanden küssen sollte, für den man etwas empfindet. Darüber hinaus kann ein Kuss nur wirklich schön sein, wenn genau das der Fall ist. Aber so perfekt, wie dieser Moment für mich war, muss ich schwer verliebt sein. Was ich nicht bin. Das geht gar nicht. Das wüsste ich bestimmt und könnte das auch erklären.

Zum Beispiel könnte ich jetzt aus dem Stehgreif etliche Gründe aufzählen, warum Luca ein wundervoller Kerl ist und ein super Freund war. Bis auf unsere Trennung war unsere Beziehung schließlich sehr schön. Aber ich kann nur wenige Gründe nennen, aus denen ich mich vielleicht, eventuell und nur unter ganz bestimmten Umständen in meinen Referendar verliebt haben könnte. Er ist nett, fürsorglich, charmant und eine ehrliche Haut. Ich habe keine Ahnung, ob er besonders witzig ist, was seine Hobbys sind, ob wir irgendwelche Gemeinsamkeiten haben. Also eigentlich weiß ich gar nichts, was irgendwie wichtig ist.

>Elaine?< Mein Kopf zuckt zur Seite, wo Herr Zuber steht und mich mit gerunzelter Stirn mustert. Auch ein paar meiner Mitschüler sehen zu mir, was mir unangenehm ist. Vor allem deshalb, weil ich gerade an eine Menge Dinge gedacht habe, die ich niemals aussprechen würde. >Ist die Aufgabe zu schwer für dich?< Er hält mir ein Stück Kreide vor die Nase, mein Blick huscht zu der Tafel. Da steht ein Satz mit ein paar Lücken, aber ich habe überhaupt nicht mitbekommen, dass er etwas aufgeschrieben hat. 

>Nein, es geht schon<, weiche ich aus, nehme das Stück Kreide und gehe nach vorn. Zum Glück habe ich mir das Thema letzte Woche noch einmal kurz angesehen, sonst wäre ich jetzt aufgeschmissen. 

Zu 0,05% schwangerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt