Chapter 13

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Der Dezember kam schneller als gedacht. Dezember war kein guter Monat für mich. Die Tage waren kurz, das Wetter schlecht und Ilays Todestag rückte immer näher. Auch Levi wurde um diese Zeit immer etwas ruhiger. Je älter er wurde, desto besser verstand er was es bedeutete, dass er seinen Papa nie kennenlernen durfte. Ich war immer offen mit Ilays Tod umgegangen. Ich hatte Levi viel über ihn erzählt und war immer auf die Fragen von Levi eingegangen.

Vor allen Dingen sollte es auch der erste Todestag mit einem neuen Partner sein. Johannes wurde sichtlich nervös deswegen. Er wusste nicht richtig wie er damit umgehen sollte. Aber es war mir egal. An diesem Tag hatten Levi und ich schon immer ein bestimmtes Ritual gehabt und ich wollte es auch in diesem Jahr genauso machen. Da der Tag ein Donnerstag war, meldete ich mich in der Berufsschule krank und Levi in der Kita ab.

Wir frühstückten in aller Zweisamkeit und fuhren dann mit Decken und Jacken bepackt zum Friedhof. Wir setzten uns mit einer Thermoskanne voll Kakao auf die weiße Bank vor sein Grab.

Ein weißer Mamorstein trug seine Inschrift.

Ilay Benjamin Werder
14.5.1998-17.12.2016
Du warst so jung, du starbst so früh, wer dich gekannt, vergisst dich nie

Two Miles apart. Nun schon seit sechs Jahren war er so weit weg.

Die Erde war nass und angefroren. Nur ein ewig Licht stand darauf. Die Blumen würden erst im Frühling wieder zu Blühen beginnen.

Wir saßen fast drei Stunden an seinem Grab. Wir redeten viel. Ich erzählte Levi ganz viele Geschichten und wir sahen uns Fotos von Ilay an. Ich war nicht wirklich religiös und hatte Levi auch nie religiös erzogen, doch an diesen Tagen sprachen wir zusammen immer ein Gebet.

Später gingen wir gemeinsam in Ilays Lieblingsrestaurant im Nachbarort und bestellten sein Lieblingsessen. Schnitzel mit Krokketen. Danach gab es ein großes Eis mit Sahne und dann gingen wir wieder zurück.

Wir hatten in der letzten Zeit nicht oft in unserer Wohnung geschlafen, doch an diesem Tag war es mir nicht nach Gesellschaft. Wir sahen uns noch gemeinsam einen Disney Film an und dann brachte ich Levi in mein Bett.

Ilays Todestag war der einzige Tag an dem ich es mir selbst erlaubte zu weinen. Ich setzte mich auf das Sofa und sah erneut die Fotos durch. Die Tränen rollten meine Wangen hinunter und tropften auf meine Ärmel. Mein Körper bebte.

Ich wurde durch das Klingeln meines Handys abgelenkt. Mit verschwommenem Blick sah ich dass es Johannes war. „Na meine kleine? Wie geht es euch?", fragte er. Ich schniefte und antwortete mit verschnupfter Stimme: „Ganz gut denke ich. Es hat sich bei mir wohl ein wenig angestaut". Johannes stieß einen müden Lacher aus. „Vielleicht solltest du dir nicht nur an seinem Todestag erlauben zu weinen. Levi ist alt genug. Du musst nicht mehr immer stark sein", sagte er.

Am nächsten Tag brummte mein Schädel. Ich hatte wohl tatsächlich ein bisschen arg geweint. Wenigstens kaufte mir in der Schule jeder ab, dass ich krank gewesenen war. Emilia, Linnea und Jamie hatte ich allerdings von dem wahren Grund erzählt. Die Drei saßen bereits in der dritten Reihe und sahen mich besorgt an, als ich zur Tür hineinkam. Ich schenkte ihnen ein Lächeln und setzte mich mit einer knappen Begrüßung auf meinen Platz.

In den ersten beiden Stunde nahmen wir die fünf Axiome von Paul Watzlavik durch. Der Unterricht erschöpfte mich. Ich vergrub mich in dem Hoodie den ich Johannes vor ein paar Tagen stibitzt hatte und sah aus dem Fenster. Der Boden war nass und in den Wohnhäusern gegenüber konnte man die Weihnachtsdeko der Bewohner erkennen. Weihnachten. Noch so ein Thema das mir seit nun sechs Jahren ziemlich schwer fiel.

In der Pause schlenderte ich zu meinem Spind und nahm mein Buch für die nächste Stunde hinaus. Gerade als ich die Spindtüre schließen wollte, erblickte ich Johannes. Er war gerade dabei die Tür zum Lehrerzimmer zu öffnen. Er hob den Kopf und sah mich an. Für einen Moment schien er nachzudenken zu mir zu kommen, doch er entschied sich dagegen, denn nachdem er für ein paar Sekunden wie versteinert da gestanden hatte, öffnete er die Tür und verschwand im Lehrerzimmer. Mein inneres zog sich zusammen. Er hatte ja Recht. Wir mussten nicht unnötig Aufmerksamkeit erregen in dem wir mitten auf dem Flur miteinander reden, doch ich hatte dringend eine Umarmung nötig.

Bevor ich wieder zurück zum Klassenzimmer ging, machte ich einen kurzen Zwischenstopp in der Mädchentoilette. Ich besah mich im Spiegel. Ich hatte Augenringe wie Wagenräder. Die dunklen Ringe ließen meine Haut noch blasser erscheinen. Ich holte tief Luft, wusch mir das Gesicht und ging wieder zurück zu den Mädels.

"Schlaft ihr heute wieder bei mir?", fragte Johannes als ich Levi zum Tennis brachte. Ich nickte müde. "Okay, dann bringe ich Levi mit", sagte Johannes. Ich sah auf seine Lippen. Ich spürte das Verlangen ihn zu küssen, doch ich musste mich beherrschen. Zwar war die Chance, dass uns jemand sah der irgendwas mit der Schule zu tun hatte sehr gering, doch wir hatten abgemacht, dass wir nichts riskieren wollten. Also strich er mir leicht über meinen Unterarm, ich gab Levi einen Abschiedskuss und stieg dann wieder in mein Auto.

Johannes hatte mir vor einigen Wochen einen Schlüssel gegeben, also fuhr ich direkt zu seiner Wohnung. Mein erster Gang ging zu seinem Kühlschrank. Wie immer war Verlass auf den Schrank mit der Holzfront. Johannes parkte im obersten Fach immer ein wenig Schokolade. Ich schnappte mir einen Kinderriegel und ging dann ins Schlafzimmer. Ich öffnete dem Kleiderschrank. Johannes hatte mir zwei Fächer frei geräumt und ich hatte bereits einige meiner Klamotten darin verstaut. Doch ich entschied mich gegen eines meiner Kleidungsstücke und nahm stattdessen einen Pulli von Johannes.

Ich verschwand damit im Bad und stellte mich unter den Duschkopf. Ich ließ das Wasser auf meinen Körper prasseln und genoss die Wärme.

Two Miles apartWo Geschichten leben. Entdecke jetzt