Mitten in der Nacht stand Rauchender Schild voller Stolz, mit einem neuen, weißen Umhang aus Baumwolle bekleidet, auf dem flachen Dach seines neuen Hauses. Er hatte die dicken Wände mit großen Steinen und viel Lehm selbst gebaut und das vollkommen flache Dach mit schlanken Fichtenstämmen gedeckt. Auf die Fichtenstämme hatte er eine dünne Lage Schilf gelegt und darauf eine dicke Lage Lehm verteilt. Damit hatte er das Dach abgedichtet.
Nur in der Mitte hatte das Dach eine viereckige Öffnung, die er mit einem Deckel verschließen konnte. Durch diese fast immer offen stehende Luke zog der Rauch des Kochfeuers ab. Zudem fiel auch genug Licht ins Haus und wenn es einmal regnete, dann lief das Wasser durch diese Luke in den großen Tontopf. Diesen Tontopf hatte seine Frau Tanzende Blume im Boden des Hauses vergraben und ihn mit einem Deckel aus Holz abgedeckt.
Über die Leiter hatte er das Dach seines Hauses mit seinem neu geborenen Sohn im Arm betreten.
Jetzt stand er dort oben, genoss den Moment und die Ruhe der Nacht. Still bat er die Götter um Schutz und konzentrierte sich. Mit einem glücklichen Lächeln nahm er seinen Sohn in beide Hände. Mit einer unbändigen Freude im Herzen präsentierte Rauchender Schild ihn dem Mond und den Sternen.
So hoch hinauf wie er nur konnte, reckte er die Arme. Er war unglaublich stolz auf den kleinen Jungen, der sich in seinen großen Händen ein wenig bewegte. Mehr konnte ein Mann wie er in seinem Leben nicht erreichen. Jetzt besaß er eine Frau, einen Sohn, ein Haus und einen eigenen Acker, den er mit viel Arbeit und Schweiß dem Texcoco-See abgerungen hatte.
„Dies ist mein Sohn!", rief er dem Mond zu und freute sich wie nie zuvor in seinem Leben. „Dies ist mein Sohn!", rief er den Sternen zu und lauschte in die Nacht.
In der Ferne heulte ein Coyote und ganz in seiner Nähe antwortete ihm eine Eule. Im Osten wurde es langsam hell, aber vom Rot der Sonne war noch lange nichts zu sehen. Stattdessen tauchte das wenige Licht die Berge in eine wunderschöne, farbliche Mischung aus Grau und Grün. Vorsichtig stieg er die Leiter herunter, schaute mit einem liebevollen Lächeln auf seine Frau Tanzende Blume. Erschöpft lag sie in ihrer Hängematte und erholte sich von den Strapazen der Geburt.
„Heißt er Eule oder Coyote?", fragte sie ihn, während sie den Kleinen voller Liebe und Stolz entgegennahm.
„Sein Name lautet Graugrüner Coyote in der Nacht!"
Er strahlte sie im Flackerlicht des Feuers an. Sie lächelte zurück und war zufrieden.
„Ein starker Name!"
Tanzende Blume war noch sehr jung. Sie zählte gerade einmal 16 große Sonnen, doch war sie schon jetzt eine sehr weise Frau. Sie sagte ihrem Mann nicht, dass sie diesen Namen für einen Jungen für viel zu lang hielt. Seine Freunde würden ihn ganz sicher nur Coyote nennen. Glücklich schaute sie auf ihren Sohn, dem sein langer Name anscheinend vollkommen egal war. Er hatte die Augen geschlossen und schlief tief und fest.
Nur ein paar Tage später nahm Rauchender Schild seine Frau und seinen Sohn mit dem Schilfboot hinaus auf den See. Er wollte Coyote unbedingt seinen neu angelegten Acker, den Chinampas zeigen. Tanzende Blume fand das zwar ein wenig seltsam, weil Coyote ja erst wenige Tage alt war und noch nichts verstand. Aber sie ließ ihren Mann gewähren. Es machte ihm Freude und sie wollte ihm diese Freude nicht verderben.
In langsamer Fahrt schob sich das Schilfboot an den Feldern der Nachbarn vorbei, immer geradeaus den Kanal entlang. Erst nach einer ganzen Weile erreichten sie das offene Wasser des Sees und bogen rechts ab, zu seinem Chinampas. Tanzende Blume war schon oft auf diesem künstlich angelegten Acker gewesen. Sie hatte ihrem Mann immer wieder eine Mahlzeit und frisches Wasser gebracht, denn das Wasser des Texcoco-Sees war ungenießbar. Es schmeckte leicht salzig und faulig.

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Der letzte Jaguarkrieger
Historical FictionBevor die Spanier Mittelamerika betraten, waren die Azteken die beherrschende Macht auf dem Kontinent. Niemand konnte ihnen das Wasser reichen. Doch ihre Macht beruhte auf Gewalt und Terror. Die unterworfenen und geknechteten Völker warteten sehnsüc...