Mit einem Blatt Amatl Papier in der Hand saß Blaue Eidechse auf einem Stein. Eigentlich wollte er weitere spanische Wörter lernen, aber seine Gedanken schweiften immer wieder ab und auf seinem Gesicht breitete sich ein zufriedenes Lächeln aus.
Sein Leben hatte sich gewaltig geändert. Einst war er eine Unperson, auf der jeder herumtrampeln konnte. Jetzt war er der gute Freund von Hernán Cortés, dem Herren von Malinche. Nicht nur die Leute in seinem Dorf wussten das, sondern auch alle Leute aus Xochimilco.
Ja, sogar bis weit über die Grenzen der Stadt hinaus war bekannt, dass Cortés ihn zu einem Adligen erhoben und ihm Land gegeben hatte. Doch noch viel wichtiger war, dass er jederzeit mit dem Heerführer der Spanier sprechen konnte und dass er seine Gunst besaß.
In der Frage der Macht hatte Cortés den Großen Sprecher der Azteken schon jetzt überflügelt und ihn in den Schatten gestellt. Noch vor nicht allzu langer Zeit schickte der indianische Adel seine Söhne nach Tenochtitlán, wenn der Herrscher einer Stadt gestorben war und es einen Machtwechsel gab. Der Große Sprecher regelte in einem solchen Fall die Nachfolge.
Er bestätigte die Söhne in ihrem Rang und teilte den Besitz unter ihnen auf. Es konnte aber auch passieren, dass er die Stadt an jemand ganz anderen gab und ihn als neuen Herrscher einsetzte. Dann verloren die Erben so gut wie alles und oft genug sogar ihr Leben. Aus diesem Grund war ein Machtwechsel immer eine sehr heikle Sache. Doch schon lange regelte der Herabstürzende Adler nicht mehr die Machtverhältnisse im Reich der Mexica.
Diese Aufgabe hatte Cortés übernommen. Er bestätigte die Söhne der Adligen in ihrem Rang, wenn sie sich loyal gezeigt hatten. Es konnte aber auch passieren, dass er ihnen alles wegnahm und sie vollkommen mittellos aus ihrer Stadt vertreiben ließ, wenn sie sich in der Vergangenheit gegen ihn gestellt hatten. Dabei hörte er stets auf den Rat von Malinche. Sie wusste alles über jeden einzelnen Fürsten und so war sie es eigentlich, die im Hintergrund die Fäden zog und das Land der Mexica regierte.
Während Blaue Eidechse über seine Freundschaft mit Cortés und den damit verbundenen radikalen Wandel in seinem Leben nachdachte, erweckte plötzlich das melodische Lachen eines Mädchens seine Aufmerksamkeit. Wie verzaubert beobachtete er die Honigsüße Zapote, wie sie ihrem kleinen Bruder hinterherjagte.
Mit ihren 16 großen Sonnen war sie genau in dem Alter, in dem sich die Männer den Hals nach ihr verrenkten. Sie war eine außergewöhnliche Schönheit mit herrlichen weiblichen Kurven. Ihre langen, schwarzen Haare hatte sie etwas nachlässig zu einem Zopf hoch gebunden, der neckisch im Wind wehte und bei jedem Schritt wippte.
Als sie ihren kleinen Bruder einholte, strahlten ihre, von dichten, schwarzen Wimpern umrandeten, dunklen Augen. Sie lachte, hob ihn hoch und wirbelte ihn herum. Dabei sah Blaue Eidechse ihre tollen Zähne und ihre vollen, rosigen Lippen. Zu gern hätte er die Honigsüße Zapote auf diese sinnlichen Lippen geküsst. Was für ein wunderschönes Mädchen!
Längst hatte sie ihn auf seinem Stein entdeckt, aber plötzlich sah sie ihn offen an, schenkte ihm einen langen sinnlichen Blick, mit einem herrlichen Augenaufschlag und einem Lächeln. Natürlich freute Blaue Eidechse sich über diesen Blick und ihr Lächeln, aber es schockierte ihn auch ein wenig. Denn anscheinend wusste auch sie ganz genau wer er war und sie wandte sich nicht von ihm ab.
Bisher waren Mädchen wie die Honigsüße Zapote nur ein Traum für Blaue Eidechse. Sie waren ebenso unerreichbar für ihn, wie der Mond, denn ihre Familie war weitläufig mit dem großen Sprecher in Tenochtitlán verwandt.
Bis vor einiger Zeit konnte Blaue Eidechse noch nicht einmal daran denken, mit einem solchen Mädchen anzubandeln. Schließlich war er nur der Sohn des Murmlers aus dem Dorf ohne Namen, bei Xochimilco und sie war die Tochter eines Adligen. Doch jetzt hatte sich alles geändert. Jetzt ging ihm mit einem Mal auf, dass sie wirklich ihn meinte! Er war jetzt jemand! Jetzt konnte er sogar mit einem Mädchen wie der Honigsüßen Zapote sprechen. Mit einem Lächeln rollte er sein Blatt Papier ein und ging zu ihr.
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Der letzte Jaguarkrieger
Historical FictionBevor die Spanier Mittelamerika betraten, waren die Azteken die beherrschende Macht auf dem Kontinent. Niemand konnte ihnen das Wasser reichen. Doch ihre Macht beruhte auf Gewalt und Terror. Die unterworfenen und geknechteten Völker warteten sehnsüc...