Alte Freunde - Teil 42

30 5 46
                                    

Tenochtitlán war so groß, dass man sich leicht darin verlaufen konnte, aber nach dem Martín und Bosco sich einen Kanal gesucht hatten und ihn zur Orientierung benutzten, landeten sie schließlich wieder im heiligen Bezirk. Hier standen nicht nur die großen Pyramiden, sondern auch der riesige Palast, in dem sie Quartier genommen hatten.

Im Moment wurde wohl gerade niemand geopfert. Der riesige Platz war fast leer, nur ein paar Priester liefen mit getrocknetem Blut an ihren Händen, an ihrem Körpern und in ihren Haaren geschäftig hin und her. Angewidert drehten die beiden Spanier sich weg, als sie den Priestern zu nah kamen und sie von ihrem Gestank nach Verwesung getroffen wurden. 

Gleich neben der großen Pyramide entdeckte Martín einen jungen Mann, den er kannte. Er war damals zusammen mit Graue Eule an Bord ihres Schiffes gekommen und später hatte er ihn am Tag der Friedensverhandlung mit den Tlaxcalteken wieder gesehen. Er war heute anders gekleidet, denn er trug rote Baumwolle und eine leichte Federstandarte am Rücken. Ganz sicher war dieser junge Mann bereits ein sehr verdienter Krieger, aber ein Jaguar war er noch nicht. So viel wusste er bereits über die Farben und Federn.

Angespannt schaute dieser prächtig gekleidete Azteke auf eine Gruppe Tlaxcalteken, die ein gutes Stück entfernt bei den Holzkäfigen standen und mit den Insassen scherzten. Jemand musste gerade etwas sehr Lustiges erzählt haben, denn alle Männer lachten, innerhalb und außerhalb der Käfige.

Ganz offensichtlich saßen da drinnen Tlaxcalteken und Martín konnte nicht verstehen, warum die Krieger ihre Freunde nicht befreiten. Nur zwei sehr junge, in Weiß gekleidete, aztekische Krieger aus dem jungen Mais hielten Wache. Ganz sicher hätten die alten Haudegen der Tlaxcalteken diese jungen Burschen leicht zur Seite schieben können. Dann wäre der Weg zu Befreiung ihrer Kameraden frei.

Genau das Gleiche hatte auch Coyote erwartet. Im Calpulli hatte Korallenschlange ihnen eingeschärft, die Tlaxcalteken und die Spanier als Gäste zu behandeln. Es sollte keine Feindschaft geben, solange diese Gäste sich auch wie Gäste benahmen.

Jetzt standen diese Gäste aber ganz nah an den Käfigen. So bald sie ihre Obsidianschwerter benutzten, um ihre Freunde zu befreien, waren sie keine Gäste mehr.

Dann waren sie wieder Feinde und das würde ihm die Gelegenheit geben, einen oder gleich mehrere Gefangene zu machen. Doch die Tlaxcalteken scherzten entspannt mit den Todgeweihten in den Käfigen und die freuten sich über den Besuch und die Abwechslung in ihrem langweiligen Dasein. 

Schon vor mehreren Tagen hatten die Azteken diese Tlaxcalteken in einem Scharmützel an der Grenze gefangen und hier eingesperrt. Sie waren jetzt alle »Coacalcos«, im Käfig aufbewahrte Nahrung für die Götter und sie dachten gar nicht daran, ihre Freunde zu bitten, sie hier herauszuholen.

Coyote fand das befremdlich, denn er erinnerte sich noch zu gut an den Tag seiner eigenen Ankunft hier in Tenochtitlán. Er wusste noch sehr genau, wie gut es sich angefühlt hatte, zusammen mit Mildes Chili von diesem Ort zu verschwinden. Es war ihm vollkommen unverständlich, warum die Tlaxcalteken nicht zu den Waffen griffen und ihre Freunde befreiten.

Aber vermutlich waren sie in Tlaxcala ebenfalls in einem Haus des Gesanges gewesen. Dort hatte man ihnen den Verstand genauso vernebelt, wie den Kindern der Mexica, die diese Schulen besuchten. Was für ein Irrsinn! Wieder befielen ihn seine Zweifel. Was wäre, wenn es gar keine Götter gab? Was wäre, wenn diese Tlaxcalteken vollkommen umsonst auf dem Opferstein starben?

In diesem Moment hörte er dicht hinter sich Schritte und fuhr herum. Da stand dieser Spanier, der so wunderbar Nahuatl sprach. Der Kerl grinste ihn an und hielt ihm eine wunderschöne, gelbe Papaya hin. Coyote kam sich ein wenig dumm vor, weil er sein Obsidianschwert so fest gepackt hatte und der andere ihm mit dieser vollkommen harmlosen Frucht gegenüber stand.

Der letzte JaguarkriegerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt