Von nun an nahm Rauchender Schild seine Frau und seinen Sohn häufig mit auf sein Feld. Noch immer verfaulte das Schilf unter seinem Acker und dann sackte der Boden ab. Jedes Mal, wenn er dachte, er hätte den perfekten Acker, zeigte der See ihm mit einem leisen Blubbern, wer hier der eigentliche Herr war.
Deshalb musste er auch jetzt noch immer wieder nachbessern, an der einen oder anderen Stelle eine weitere Lage Schilf auslegen und die wiederum mit Schlamm vom Grund des Sees stabilisieren. Die Götter mussten wohl einen besonderen Sinn für Humor haben. Doch es war längst nicht mehr so eine Plackerei wie am Anfang. Er freute sich an seinen Pflanzen und als sie endlich die ersten Tomaten pflücken konnten, war das ein Fest für Rauchender Schild.
Schon zwei Tage darauf schnitt er sich an seinem Zaun eine Handvoll frisch ausgetriebener Weidenzweige, flocht sie im Handumdrehen zu einem Körbchen und füllte es mit Tomaten und Chilischoten. Mit diesem Körbchen in der Hand besuchte er seinen jüngeren Bruder Schneller Hase in Xochimilco. Die Stadt lag nur wenige Schritte entfernt von seinem Dorf auf mehreren Hügeln.
Schneller Hase hatte selbst keinen Acker, denn er war der Schreiber der kleinen Stadt Xochimilco. Ihn bezahlten die Adligen hin und wieder mit einem Paar Sandalen, einem Baumwollumhang und natürlich mit Essen. Allerdings war sein Lohn viel zu gering, um davon eine Familie zu ernähren.
Aus diesem Grund übernahm er hin und wieder auch die Pflichten eines Priesters. Er gab junge Paare zusammen und nahm ihnen das Eheversprechen ab.
Wurde ein Kind geboren, dann wusste er ganz genau, welche Dankesrituale die Eltern den Göttern schuldeten. Auch an den Feiertagen half er die Gunst der Götter zu erbitten. Nach jeder Zeremonie bedankten sich die Menschen bei ihm, indem sie ihn mit Früchten, Gemüse oder frisch gebackenen Maisfladen bezahlten. So kam Schneller Hase ganz gut über die Runden. Aber reich wurde er weder als Schreiber, noch als Priester.
Rauchender Schild bedauerte ihn ein wenig, weil er so arm war. Denn seitdem er mit Tanzende Blume verheiratet war, ging es ihm richtig gut. Seine Frau kochte für ihn und in der Nacht teilte sie mit ihm das Lager. Stolz schlenderte er mit seinem Körbchen in der Hand durch die staubigen Straßen von Xochimilco. Er grüßte die Handwerker, die draußen vor ihren Häusern im hellen Licht des Tages arbeiteten und blieb stehen vor dem kleinen Haus, in dem sein Bruder lebte und arbeitete.
Mit verschränkten Beinen saß Schneller Hase vor seinem Haus auf dem Boden, mit dem Rücken zur Wand. Er war schon immer sehr gelenkig und hatte sich die Füße auf die Oberschenkel gelegt. Nie hätte Rauchender Schild in dieser Position sitzen können. Zudem glaubte er, dass sein Bruder dort schon sehr lange dort saß. Vermutlich hatte er sich vor Stunden in den Schatten seines Sonnensegels gesetzt. Jetzt war der Schatten aber weiter gewandert und er saß in der prallen Sonne, ohne es zu bemerken.
Schneller Hase war in eine Schriftrolle aus Amatl Papier vertieft und bewegte die Lippen. Rauchender Schild wollte ihn nicht stören und blieb respektvoll in ein paar Schritten Entfernung von seinem jüngeren Bruder stehen. Schneller Hase hatte ihm zwar gesagt, wie das mit dem Lesen funktionierte, aber begriffen hatte Rauchender Schild es nicht.
Für ihn war Lesen etwas vollkommen Unbegreifliches. Wie schaffte er es nur, aus diesen vielen Tausend unverständlichen Zeichen und Bildern, genau die richtigen Worte herauszulesen?
Erst nach einer Weile bemerkte Schneller Hase seinen Bruder und lächelte ihn an. „Wie lange stehst du schon da?"
Rauchender Schild lächelte. „Lange genug, um zu sehen, dass du in Gedanken ganz woanders warst. Gibt es etwas Neues in der Welt? Was erzählen dir die Schriftrollen?"
„Oh ja! Es gibt sogar sehr viel Neues in der Welt. Doch das meiste sind keine guten Nachrichten. Oft geht es nur um Krieg und Tod. Viel wichtiger für dich ist jedoch, dass die Azteken jetzt auch hier in deinem Dorf einen offiziellen Murmler eingesetzt haben", antwortete Schneller Hase mit ernster Miene.
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Der letzte Jaguarkrieger
Ficción históricaBevor die Spanier Mittelamerika betraten, waren die Azteken die beherrschende Macht auf dem Kontinent. Niemand konnte ihnen das Wasser reichen. Doch ihre Macht beruhte auf Gewalt und Terror. Die unterworfenen und geknechteten Völker warteten sehnsüc...