Der junge Mais - Teil 9

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Mildes Chili glaubte, in einen Abgrund zu stürzen. Ihr war zum Heulen zumute, als Coyote ihr seine gute Nachricht mit einem vor Freude strahlenden Gesicht erzählte. Er war so glücklich endlich ein Krieger zu werden. Sie hingegen würde hier allein mit dieser schrecklichen Alten zurückbleiben.

Trotzdem lächelte sie ihn an und bestärkte ihn darin, morgen in das Haus des Gesanges zu gehen. Wenn sie sich nur vorstellte, ganz allein mit Mesquiteblüte auf diesem Chinampas zu leben, dann wurde ihr angst und bange. Doch welche Wahl hatte sie? Nur wenn er ging und ein Krieger wurde, konnte er sie aus den Fängen dieser Alten befreien. Das konnte mehrere große Sonnen dauern, aber so lange musste sie durchhalten. Blieb er hier, dann waren sie beide verloren.

Mesquiteblüte hatte alle ihre Kakaobohnen für Feuerholz und eine magere Ente ausgegeben. Mit diesem Festmahl wollte sie den Jungen versöhnlicher stimmen. Wie ausgewechselt war sie an diesem Abend. Mit dem freundlichen Lächeln einer falschen Schlange fragte sie die Kinder ganz beiläufig aus. Sie wollte alles über ihre Familien wissen, wo sie denn genau lebten und mit wem sie verwandt waren. Die beiden dachten sich nichts dabei und erzählten ihr alles bis ins kleinste Detail. 

Mesquiteblüte hörte es mit einem Lächeln und speicherte alle Antworten sorgfältig in ihrem Kopf ab. 

Nachdem sie alles, was sie wissen wollte, erfahren hatte, lächelte sie den Jungen freundlich an. „Du kannst mir glauben, Mildes Chili ist hier bei mir in Sicherheit. Niemand wird sie von hier wegholen oder sie vielleicht sogar opfern. Das wird nicht passieren! Das werde ich verhindern!"

Er hatte da so seine Zweifel. „Wie willst du das anstellen? Wie willst du sie vor dem Opfertod schützen?"

Vollkommen entspannt lächelte Mesquiteblüte das Mädchen an. „Wenn der Herabstürzende Adler doch noch hierherkommen sollte, um dich zu holen, dann musst du ihm vorspielen, dass du durch den Schlag auf den Kopf verrückt geworden bist. Die Azteken opfern keine Sklaven und auch keine Verrückten", meinte sie und grinste.

Coyote hielt das für einen Witz und auch Mildes Chili zweifelte sehr daran, dass man so etwas glaubhaft spielen könnte. Aber Mesquiteblüte führte es ihnen vor und sie war wirklich sehr verrückt. Ohne Vorwarnung sprang sie auf und begann, unsichtbare Motten und Schmetterlinge aus der Luft zu fangen, als ob sie von diesen Tieren umgeben wäre. Sie tanzte durch die Gegend, lachte ohne jeden Grund und schlug sich dabei immer wieder selbst mit der flachen Hand auf den Kopf.

Plötzlich blieb sie stehen, starrte in die Ferne und begann, mit jemandem zu sprechen, der gar nicht da war. Ihre Worte waren unverständlich und sie schien auch nicht auf eine Antwort zu warten, sondern lächelte nur und war vollkommen versunken in ihrer eigenen Welt.

Mit offenem Mund hatte Mildes Chili ihr staunend zugesehen und auch Coyote hatte die Alte für ihr Talent bewundert.

Lauernd schaute sie den Jungen an. „Ich werde deiner kleinen Freundin diese Kunst beibringen, wenn du versprichst, dass du eines Tages zu einem Jaguar wirst und mich von hier weg holst."

Als er nickte, lachte sie. „Dann lasst uns einen Pakt schließen! Ich werde deine Freundin vor dem Opfertod schützen. Sie wird mir dafür hier bei der Arbeit helfen und du wirst so schnell wie möglich zu einem Jaguar werden. Dann gibt der Große Sprecher dir Land und viele Sklaven. Dann bist du reich und kannst uns dem Herabstürzenden Adler abkaufen."

Nicht nur Mesquiteblüte, sondern auch das Mädchen war froh, als Coyote zustimmend nickte. Mit einem ganz ernsten Gesicht, aber auch mit einem entschlossenen Blick schaute er die beiden an. Da lag jetzt eine riesige Last auf seinen Schultern, aber er war gewillt sie zu tragen.

Doch Mesquiteblüte war noch nicht fertig mit ihnen. Mit einem hinterhältigen Lächeln schaute sie Mildes Chili an. „Solltest du jedoch weglaufen, dann werde ich sofort zum Herabstürzenden Adler gehen und ihm alles über unseren Pakt erzählen. Dann wird der mich ganz sicher umbringen, aber er wird auch dich wieder einfangen. Dann wirst du doch noch die Stadt von der Spitze der Pyramide sehen, bevor man dir das Herz aus der Brust reißt." Noch immer lächelte sie das Mädchen an, doch jetzt war es kein freundliches Lächeln mehr.

Der letzte JaguarkriegerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt