Gefolgt von seinen Schützlingen betrat Korallenschlange die Gebäude ihres Calpullis. Den anderen Jungs gönnte er an diesem Morgen ein paar Stunden Ruhe, während Coyote seinen Wassersack und seinen Proviant fest an seine Hüfte band und losrannte obwohl er vollkommen erledigt war.
Mitten durch den heiligen Bezirk, mit den großen Pyramiden und den riesigen Palästen des Großen Sprechers und der anderen adligen Familien, musste er hindurch. Doch dafür hatte er jetzt kein Auge.
Als ein Unglücklicher von den Gehilfen der Priester die steilen Treppen zu seinem letzten Gang hinauf geführt wurde, wandte er den Blick ab. Die große Trommel und die riesigen Muschelhörner, die jetzt geblasen wurden, um das Volk zur Opferzeremonie zu rufen, nahm er kaum wahr.
Mitten durch die Menge rannte er und war froh, als er endlich die dicht besiedelte Stadt hinter sich ließ und den Damm unter seinen Füßen spürte. Nur einen kleinen Blick zur Seite konnte er nicht vermeiden.
Auf dem Chinampas sah er Mildes Chili in der Ferne, wie sie bei der Arbeit am Boden kniete. Vermutlich steckte sie gerade neue Samen in den frischen Kompost, den er selbst noch verteilt hatte. Dann war sie auch schon aus seinem Blickfeld verschwunden und vor ihm lagen der riesige See und der endlos lange Damm.
Es musste viele große Sonnen gedauert haben, diesen Damm mit Sand und Steinen aus den Bergen aufzuschütten. Er hatte gehört, dass es insgesamt fünf dieser Dämme geben sollte. Daneben sollte es drei Aquädukte geben, über die das Wasser aus den Bergen in die Stadt geleitet wurde.
Kurz hinter der Stadt bemerkte er eine Lücke im Damm. Sie war mit dicken Balken abgedeckt. Unter dieser Brücke konnte man mit einem Kanu hindurchfahren. Sollte es je ein Feind wagen, Tenochtitlán anzugreifen, dann würden die Azteken diese Balken einfach von der Brücke entfernen. An dieser Lücke im Damm saß der Feind dann fest. Hier würden die Krieger ihn dann bekämpfen.
Gleichzeitig würden sie ihn vom See aus mit ihren vielen Tausend Kanus angreifen. In Gedanken malte Coyote sich aus, wie die Schlacht um die Stadt an dieser Stelle entschieden wurde und wie die Azteken über ihre Feinde triumphierten. Diese Lücke im Damm war eine wirklich großartige Idee. Ein herrlicher Schutz für die Stadt und ihre Bewohner.
Als er vor gar nicht allzu langer Zeit auf diesem Weg in die Stadt hinein gegangen war, da hatte er die Brücke gar nicht bemerkt. Doch damals war das verständlich, denn da war er am Ende seiner Kraft. Heute war ein anderer Tag und er flog regelrecht über den Damm. Wie hatte ihm das Laufen gefehlt! Ob Schneller Hase jetzt wohl allein nach Amecameca lief? Vielleicht würde er ihn ja dort treffen? Vielleicht war er ja gerade dort, um seinen Bruder zu besuchen? Sein Herz schlug schneller, als er sich ausmalte, seinen Onkel, den Schnellen Hasen dort zu treffen. Das wäre so schön! Aber sehr wahrscheinlich war es nicht, ihn tatsächlich dort zu treffen. Das war ihm klar.
Schon nach kurzer Zeit tauchte die kleine, dicht besiedelte Insel vor ihm auf. Auch die Wachtposten hatte er auf dem Weg in die Stadt nicht bemerkt. Jetzt schauten die Krieger nur kurz auf sein ledernes Armband mit den Federn und auf seine Schriftrolle und winkten ihn durch. Er konnte einfach weiter laufen und musste noch nicht einmal anhalten. Hinter der Insel gabelte sich der Weg.
Ein ganz neuer Damm führte von hier aus nach Iztapalapa und ein etwas älterer Damm nach Coyoacán. Er nahm den gleichen Weg, den sie gekommen waren, nach Coyoacán. In der kleinen Stadt hielt er an und wollte Wasser aus dem Aquädukt trinken. Ein ganz feiner Strahl floss hier von hoch oben aus dem Bauwerk heraus und unten füllten die Frauen ihre Gefäße. Doch als sie ihn mit seinem ledernen Armband kommen sahen, machten sie ihm schnell Platz. Kein Läufer musste sich an einer Wasserstelle anstellen und warten, bis er dran war.
Nach einem ausgiebigen Schluck Wasser und einer ganz kurzen Dusche rannte er weiter, immer am Seeufer entlang und die ganze Zeit dachte er daran, einfach weiter nach Xochimilco zu laufen und nicht in Colexco nach Amecameca abzubiegen. Doch wenn er nach Hause lief, dann war sein Weg vorgezeichnet. Dann würde er kein Krieger, sondern ein Bauer werden, genau wie sein Vater. Zudem konnte es sein, dass man ihm einen Trupp Krieger hinterherschickte, weil er nicht wieder zurückkam.
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Der letzte Jaguarkrieger
Historical FictionBevor die Spanier Mittelamerika betraten, waren die Azteken die beherrschende Macht auf dem Kontinent. Niemand konnte ihnen das Wasser reichen. Doch ihre Macht beruhte auf Gewalt und Terror. Die unterworfenen und geknechteten Völker warteten sehnsüc...