Die Sonne war gerade aufgegangen. Über den Wiesen und Wäldern lag leichter Nebel.
Aaron hatte soeben sein Frühstück beendet.
Finya war an seiner Seite gekniet und hatte ihn bedient, auch wenn er es eigentlich, wenn sie alleine waren, immer wieder auch genoss, mit ihr gemeinsam zu frühstücken.
Nun stand er auf seiner Terrasse und beobachtete, wie die Sonne langsam höher stieg.
Er hörte, wie sich Finya ihm näherte, als auch sie ihr Frühstück beendet hatte.
Unwillig knurrte er, als sie neben ihm auf die Knie sank.
„Du weißt, dass du das nicht zu tun brauchst, Finya, wir sind alleine." sprach er mit einem leichten Tadel.
Finya lächelte sacht. Viel zu sehr war ihr dieses Verhalten im letzten halben Jahr in Fleisch und Blut übergegangen.
„Als ob es Euch nicht gefällt, wenn ich das hier tue, Aaron..." neckte Finya ihn zaghaft und lehnte sich sacht an sein Bein.
Wie automatisch legte sich Aaron's Hand erst sanft auf ihren Kopf, dann strichen seine Finger zärtlich über ihre Wange.
Entspannt schloss Finya die Augen.
Schließlich löste Aaron sich fast schon schwerfällig von Finya. „Steh auf." forderte er sanft und sie erhob sich mit einem Lächeln.
Erst jetzt sah Finya, wie der Nebel sanft über der Landschaft lag. Fasziniert trat sie näher an die Brüstung. Der Anblick faszinierte sie, denn noch nie zuvor hatte sie den Herbstnebel aus dieser Perspektive gesehen.
Auf einmal blickte sie sehnsüchtig zum Wald. Fast glaubte sie, das feuchte Laub riechen zu können.
Mit einem wehmütigen Seufzen wollte sie sich abwenden, doch Aaron trat hinter sie und hielt Finya, die Hände auf ihren Schultern, davon ab.
Aaron lächelte. „Wenn Jarl Kari abgereist ist, steht Arvids und Kjells kleinem Spiel nichts mehr entgegen."
Finya wandte den Kopf und sah ihn fragend an.
„Kjell hatte Recht. Es ist eine gute Übung für die Garde. Besonders für Jonas. Er hat die letzte Zeit sehr hart trainiert. Es wird Zeit, seine Fähigkeiten auf die Probe zu stellen.
Aber jetzt komm. Jarl Kari wird heute die Urteile verkünden und du wirst an meiner Seite sein.
Für die Urteilsverkündung hatte Aaron seinen Thronsaal zur Verfügung gestellt.
Dieses Mal war es jedoch der Jarl, der auf dem Thron saß.
Neben dem Thron war nur ein geringfügig schlichterer Stuhl aufgestellt, auf dem Aaron Platz genommen hatte. Finya saß auf einem Hocker an seiner Seite.
Auch die Garde und ein Dutzend Wachen hatten den Thronsaal bereits betreten. Dimitri wollte gerade jedem seinen Posten zuweisen, als er von seinem Herrscher unterbrochen wurde. „Dimitri, Jonas. Auf ein Wort." forderte er die beiden auf, zu ihm zu kommen.
„Jonas, deine Aufgabe heute wird es sein, für Finyas Schutz zu sorgen." erklärte er, nachdem sich beide vor ihm verneigt hatten. Jonas verneigte sich erneut, dieses Mal deutlich tiefer. „Es ist mir eine Ehre, Hoheit." erwiderte er etwas nervös. Dimitri klopfte ihm auf die Schulter. „Du kannst das." ermutigte er ihn. „Wir haben viel geübt und wahrscheinlich wird ohnehin nichts passieren,"
Als letztes betrat David sichtlich nervös den Saal und ging auf den Jarl zu. Dieser nickte ihm freundlich zu. „Die Akten sind sortiert." erklärte er. „Du wirst mir jeweils die einzelnen Akten reichen, damit ich die Urteile sprechen kann."Als alle schließlich ihren Posten eingenommen hatten, öffnete sich die große Flügeltüre.
Eine Gruppe von 20 Gefangenen betrat den Saal. Jedem Einzelnen von ihnen waren die Hände vor dem Körper gefesselt. Die ganze Gruppe wurde von einigen Kriegern flankiert und nach vorne geführt.
Respektvoll sanken die Krieger vor ihrem Herrscher auf die Knie und senkten den Kopf.
Kari streckte seine Hand aus und David reichte ihm dir erste Akte. Nur kurz warf Kari in einen Blick darauf.
„Aki, tretet vor." rief er den ersten Gefangenen auf. Nervös trat der Mann vor den Thron und sank erneut auf die Knie. „Ihr habt von Anfang an keinen Widerstand geleistet. Ich glaube Euch, dass Ihr Euch meinem Bruder lediglich aus Selbstschutz unterworfen habt und nie hinter seinen Taten standet. Daher werdet Ihr von mir begnadigt." erklärte Kari schlicht.
„Erhebt Euch und wartet an der Seite."
Sichtlich erleichtert stand Aki auf und verneigte sich tief vor dem Jarl.
Nacheinander rief er alle Gefangenen der Gruppe auf. Jeden Einzelnen von ihnen begnadigte er.
„Tretet nun alle wieder vor mich." forderte er schließlich.
„Bevor Ihr Eure Freiheit erlangt, werdet Ihr mir alle die Treue schwören.
Geschlossen gingen die Männer auf ein Knie herab und leisteten bereitwillig den geforderten Schwur.
Sichtlich zufrieden nickte Kari den Wachen zu, den Männern die Fesseln abzunehmen.
Dimitri wies ihnen anschließend einen Platz am Rande des Saales zu.
Nach einer kurzen Pause öffnete sich die Türe erneut.
Die zweite Gruppe Gefangener war etwas kleiner. Allerdings waren sie deutlich stärker gefesselt und strenger bewacht, doch auch diese Männer sanken vor ihrem Richter auf die Knie. Mit Genugtuung blickte der Jarl auf sie herab und ließ sich die erste Akte reichen.
„Sindri, tretet vor." Ein junger Krieger löste sich aus der Gruppe, trat vor und verneigte sich. Auch er wirkte sichtlich angespannt, als er erneut auf die Knie ging.
„Ihr habt sichtlichen Widerstand geleistet. Da Ihr mir aber dann glaubhaft versichert habt, dass Ihr bereit seid, Euch mir zu unterwerfen, erhaltet Ihr von mir eine zweite Chance. Ich verurteile Euch daher zu einem Jahr Kerkerhaft. Nach Ablauf der Frist werde ich Euren Fall neu beurteilen."
Er nickte einer der Wachen zu, die den Mann an die Seite führten.
Erneut rief er einen nach dem Anderen auf. Ohne Ausnahme akzeptierte jeder von ihnen sein Urteil.
„Bringt die Männer zurück in ihre Zellen." wies er die Wachen an, als das letzte Urteil gesprochen war.
Dieses Mal dauerte die Pause deutlich länger.
Schließlich gab Kari einer der Wachen ein Zeichen. Nur wenige Minuten später wurden die vier letzten Gefangenen hereingeführt.
Sie waren noch strenger gefesselt. Zudem wurde jeder von ihnen von zwei Wachen geführt, was zumindest bei zweien von ihnen auch nötig war, denn sie leisteten selbst jetzt noch erbitterten Widerstand. Die beiden Brüder hingegen schienen deutlich vernünftiger und beugten nach kurzem Zögern schließlich doch noch ihr Knie vor Kari. Hoch aufgerichtet blieben die ersten zwei stehen. „Ihr seid nicht unser Herrscher." begann der Eine zu sprechen."
„Ihr habt unseren rechtmäßigen Herrscher ermordet." ergänzte der Andere und wandte sich dann an die bereits freigesprochenen Krieger. „Erhebt Euch gegen diesen Königsmörder. Gemeinsam können wir ihn besiegen."
Keiner der begnadigten Männer reagierte auch nur im Geringsten darauf. Mit Genugtuung konnte Kari vielmehr den Unglauben in ihren Gesichtern sehen.
Als einer der Männer jedoch vor ihm ausspuckte, verlor er die Geduld.
„Gib mir die beiden anderen Akten." forderte er David auf, der gerade die Akten der Brüder in den Händen hielt „Ihr werdet beide zum Tode verurteilt." erklärte er dann kalt. „Die Gründe hierfür liegen auf der Hand. Die Urteile werden morgen bei Sonnenaufgang vollstreckt. Führt sie ab."
Sogleich wurden die Beiden unter heftiger Gegenwehr aus dem Saal geführt.
Zurück blieben lediglich die Brüder, die nun zitternd vor dem Jarl knieten. Deutlich konnte er ihre Angst erkennen, auch zum Tode verurteilt zu werden.
Langsam stand der Jarl auf, stieg die Stufen herunter und blieb vor den beiden Männern stehen.
Beide hatten die gleichen langen, rötlichen Haare und einen ebensolchen Bart. Ganz offensichtlich waren sie nicht nur Brüder, sondern auch Zwillinge.
„Wer von Euch ist Yngvar und wer ist Ymir?"
„Ich bin Yngvar, Jarl." erwiderte der eine der Beiden. „Und das ist mein Bruder Ymir."
Langsam begann Kari vor den Beiden auf und ab zu gehen.
„Was mache ich nur mit Euch..." sprach er nachdenklich zu sich.
„Ihr wart bisher weder wirklich kooperativ, noch habt Ihr Euch von Euren Taten oder meinem Bruder distanziert. Immerhin scheint Ihr genug Hirn zu haben, keine Gegenwehr zu leisten und Euch mir wenigstens jetzt zu unterwerfen.
Unsicher hob Ymir den Blick und ließ ihn durch den Raum gleiten. Auf den begnadigten Männern blieb er schließlich liegen. Seine Augen weiteten sich überrascht.
„Ganz richtig." ergriff Kari das Wort. „Ich habe diese Männer begnadigt. Sie sind alle frei und haben mir bereits den Treueschwur geleistet."
Ymir blickte erneut zu Kari.
„Was ist mit unseren anderen Kameraden geschehen, Jarl?"
„Die Anderen, die Euren Angriff überlebt haben, befinden sich im Kerker und werden dort vorerst auch bleiben."
Ungläubig sah nun auch Yngvar auf.
„Dann sind Rorim und Ryadal bisher die einzigen, die der Tod erwartet?"
Kari nickte. „Das sind die beiden einzigen Todesurteile, die ich bisher ausgesprochen habe."
Augenblicklich wurden die Brüder blass. Sehr wohl erkannten sie das Damoklesschwert, das über ihnen schwebte.
Schließlich ergriff Ymir das Wort.
„Wenn Ihr alle Anderen verschont habt, seid Ihr wahrlich ein gütiger und gerechter Herrscher." Yngvar nickte zustimmend. „Allerdings fürchte ich, dass unsere Einsicht zu spät kommt, Bruder." sprach er dann leise.Kari lächelte unsichtbar und blieb direkt vor den beiden Männern stehen.
„Ich werde vorerst kein Urteil über Euch sprechen." erklärte er dann ruhig. „Ihr erhaltet von mir eine zweite Chance, Euch und Euer Verhalten mir gegenüber zu erklären.
Allerdings erst, wenn wir zurück in unserem Land sind. Bis dahin bleibt Ihr im Kerker. Was danach geschieht, liegt an Euch."
Ungläubig blickten die Brüder erst sich, dann ihren Herrscher an, dankten ihm respektvoll und verneigten sich tief.
„Führt sie ab." wies er die Wachen an, bevor er wieder auf dem Thron Platz nahm und sich zurück lehnte. Ohne jegliche Gegenwehr gingen Yngvar und Ymir mit ihren Wachen mit.Nachdenklich berührte Finya ihren Herren leicht am Bein.
Dieser lehnte sich leicht zu ihr. „Was möchtest du?" fragte er leise.
Finya lehnte sich ihm ebenfalls entgegen und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Nachdenklich blickte er auf die fremden Krieger, die immer noch am Rand seines Thronsaals standen.
„Jarl Kari?" wandte er sich an Kari.
Dieser blickte ihn fragend an.
„Nachdem Ihr diese Männer freigesprochen habt, ist mein Kerker wohl kaum noch eine passende Unterkunft für sie." setzte Aaron an.
Kari nickte verstehend. „Das ist wohl wahr, doch ich habe Eure Gastfreundschaft schon mehr als genug beansprucht und sollte ohnehin bald abreisen."
Aaron winkte ab. „Ihr seid hier willkommen. Immerhin habe ich Euch einiges zu verdanken.
Wenn Ihr einverstanden seid, werde ich Eure Leute in einigen der Truppenräumen unterbringen."
Kari schmunzelte. „Lasst mich raten. Das war erneut die Idee Eurer klugen Sklavin?"
Aaron schmunzelte ebenfalls. „Sie hat mich zumindest darauf aufmerksam gemacht, dass die Männer eine Unterkunft brauchen..."
„Ich nehme Euer Angebot gerne an. Dennoch werden wir in drei Tagen abreisen."
Karis Blick legte sich auf seine ‚neuen' Krieger,
„Unser Gastgeber ist so freundlich, Euch bis zu unserer Abreise Gemeinschaftsunterkünfte zur Verfügung zu stellen. Doch auch wenn ich Euch die Freiheit geschenkt habe, erwarte ich, dass ihr Euch dem Willen von König Aaron beugt und diese nicht ohne sein Einverständnis verlasst."
Aaron hob leicht die Hand. „Sie mögen sich im Erdgeschoss frei bewegen."
Dankend verneigten sich die Männer und wurden dann von Aaron's Wachen zu ihren Unterkünften geleitet.
Drei Tage später versammelten sich alle bereits früh am Morgen im Innenhof. Yngvar und Ymir, sowie die anderen Gefangenen, saßen bereits gefesselt auf ihren Pferden. Flankiert wurden sie von den Kriegern des Jarl sowie zwei Dutzend Wachen, die das Siegel König Aaron's trugen.
Als alle zur Abreise bereit waren, trat Kari nochmal auf Aaron zu. Neben ihm stand etwas unsicher David. „Ich danke Euch für Eure Gastfreundschaft, König Aaron. Ich werde die nächste Zeit viele Dinge zu regeln haben, doch danach würde ich mich freuen, Euch als meinen Gast begrüßen zu dürfen."
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Finya 2
VampireBitte zuerst Teil 1 lesen! Finya hat ihren Platz als Sklavin an König Aaron's Seite letztendlich akzeptiert. Dennoch sieht sie sich immer wieder neuen Herausforderungen gegenüber. Wird sie Aaron weiterhin vertrauen oder wird sie doch scheitern?