Dannielle hatte den anfangs schnellen Ritt durch den weißen Wald genossen. Eine frische Schicht Pulverschnee bedeckte die Wege und verwandelte die Landschaft in einen Haufen voller Zuckerwatte. Auch ihr Brauner tänzelte glücklich schnaubend durch das weiße Glitzerzeug.
Sie waren erst seit kurzer Zeit unterwegs. Die Sonne würde bald den Zenit erreichen und sich dann in rasantem Tempo wieder dem Horizont nähern. Sie würden das nächste Dorf, in dem sie die Absicht hatten zu übernachten, erst nach Einbruch der Dunkelheit erreichen. Auch wenn sie den Weg seit ihrer Kindheit kannten, hatten sie Laternen und ein paar Pechfackeln ihrem Gepäck hinzugefügt, um den Weg im Dunkeln zu finden.
Dannielle hatte über das große schwarze Tier gestaunt, das Jared sein Eigen nannte, während er ihm das Gepäck auflud. Es musste ein Vermögen wert sein. Treu folgte es seinem Herrn aus der engen Stallgasse. Dannielle war nicht entgangen, dass er sich kaum auf den Beinen halten konnte. Er hatte sich nicht einmal die Stiefel geschnürt. Beinahe fürchtete sie, er würde über die langen Lederbänder stolpern, doch als sie ihn darauf ansprach, winkte er nur ab und meinte, sobald er seine Finger wieder spüre, würde er das nachholen.
Sie hätte ihm liebend gern noch ein oder vielleicht auch zwei Tage Bettruhe empfohlen, damit er sich vollständig erholen konnte, doch keiner der beiden Männer hatte ihren Worten Gehör geschenkt. Das Resultat war nun, dass sie ihn nicht aus den Augen ließ.
Sie verfolgte jede seiner Bewegungen, die mit der Zeit immer mehr Sicherheit und Gewandtheit annahmen und auch etwas Anderes von dem Dannielle nicht ganz zu sagen vermochte, was es war. Auch, wenn ihm von Zeit zu Zeit die Augen zufielen und er drohte vom Pferd zu rutschen, gefiel es ihr, ihn anzusehen.
Sie hatten nicht viel miteinander gesprochen. Vielleicht nur ein zwei Worte. Doch nun überlegte Dannielle, ob sie ihren Bruder nach einer Pause fragen sollte, damit er sich kurz ausruhen konnte. Auch wenn es nur fünf Minuten waren, die sie brauchte, um sich kurz hinter ein Gebüsch zu hocken.
„Jean..." Sie gab ihrem Braunen die Sporen und galoppierte neben ihn. Doch ehe sie den Mund erneut öffnen konnte, gab es ein knirschendes Geräusch, wie wenn etwas Großes in Schnee fiel. Als sie sich umwandte, gab Jareds reiterloses Pferd ein irritiertes Schnauben von sich.
Dannielle zügelte ihr Pferd, schwang sich von dessen Rücken und begab sich sofort an seine Seite. Jared lag regungslos im Schnee, der seinen Fall weich abgemildert hatte. Seine Augen waren geschlossen, die Lider flatterten kurz, als sie seinen Kopf anhob.
„Mylord Jared, Ihr müsst aufwachen", sprach sie leise und fuhr vorsichtig mit ihrer Hand durch sein Haar. Seine Ohnmacht konnte nicht besonders tief sein. Und tatsächlich öffnete er nach ein paar weiteren Atemzügen langsam die Augen.
„Ihr hättet auf mich hören sollen", flüsterte sie leise, sodass nur Jared ihre Worte hören konnte. „Ihr geht ein so großes Risiko ein für uns. Das ist dieses Buch gewiss nicht wert... Ihr solltet ausruhen."
„Was?" Er räusperte sich verwirrt „Was zur Hölle...?" Mit einem Mal schien er zu begreifen, wo er war. Seine Hände zitterten und er setzte sich langsam auf. „Es geht schon, geht schon", murmelte er geistesabwesend.
Sie wollte ihm aufhelfen, doch er schob ihre angebotene Hand beiseite. Dann klopfte er sich den Schnee vom Mantel. Als sie ihm jedoch einen Schluck Wasser aus ihrer Feldflasche anbot, nahm er dankend an.
„Dann können wir ja weiter!" Jean-Jacques hatte sein Pferd gewendet und beobachtete die beiden vom Rücken seines Tieres aus ungeduldig. Dannielle schwang sich wieder in ihren Sattel und nachdem auch ihr Begleiter es geschafft hatte, aufzusitzen, beschloss sie, dass vielleicht eine Unterhaltung eher dazu führen würde, dass er bei Bewusstsein blieb. Sie blieb an seiner Seite und ließ Jean-Jacques einen kleinen Vorsprung, damit er ihre Unterhaltung nicht in jedem Detail verfolgen würde.
„Woher kommt Ihr eigentlich?", fragte sie ohne einen besonderen Tonfall, um der Frage nicht viel Bedeutung zu schenken.
Gelangweilt sah Jared zu ihr herüber.
„Was meint Ihr damit?", fragte er. „Meint Ihr, wo ich geboren wurde, oder wo ich zu Hause bin?"
„Nun, beides. Habt Ihr eine Familie?"
Dannielle hätte sich selbst schlagen können, sie war viel zu aufdringlich. Eigentlich wollte sie auch nur sicher gehen, dass es sich bei ihrem Begleiter nicht vielleicht doch um den gutaussehenden, vielleicht etwas zwielichtigen zweitgeborenen Sohn irgendeines Adligen aus weiter Ferne handelte, mit dessen Familie es sich lohnen würde, eine Allianz zu schmieden. Es war so unwahrscheinlich. Und im zweiten Moment war sie sich nicht einmal mehr sicher, ob sie sich das wirklich für einen Augenblick gewünscht haben mochte.
Ihr Begleiter seufzte.
„Meine Mutter, die Königin von Spanien, und eine Hure, teilte ihr Lager mit einem italienischen Grafen. Beide wollten mich nicht und ich landete in London bei meinem Großonkel Sir Robert, und wurde von meiner Cousine dritten Grades in Frankreich bei Hofe erzogen."
Dannielle runzelte verwirrt die Stirn. Seine Miene verriet nichts.
„Aber Ihr seht gar nicht aus, wie ein Spanier oder Itali..." Jared unterbrach sie mit einem düsteren Blick. Ihr entfuhr ein unschuldiges „Oh."
„Wirklich, sehr witzig", entgegnete sie daraufhin ein wenig beleidigt. Sie beobachtete, wie seine Hand hinauf zu der kleinen Wunde an seinem Hals glitt.
„Habt Ihr Schmerzen? Ich kann Euch einen Tee bereiten, wenn wir ankommen. Es kann nicht mehr allzu weit sein."
Jareds Augenlider flatterten kurz und er fuhr sich mit der Hand übers Gesicht, wie um die Flecken vor seinen Augen zu vertreiben.
„Nein, es geht schon", antwortete er. „Ich brauche dafür vielleicht etwas Stärkeres als Tee." Er atmete tief ein und wieder aus. Dann fuhr er fort.
„Ich will ehrlich zu Euch sein, Mylady. Ich habe keine Familie. Ich habe eine Vergangenheit, die Euch, um ehrlich zu sein, nichts anzugehen hat. Ich bin in England geboren. Ich habe als Kind in den Straßen von London ein Spiel gespielt. Es hieß: Wer war meine Mutter? Wer sich die besten Geschichten ausgedacht hat, hat gewonnen."
Dannielle schluckte unsicher. Sie wusste, dass Armut sich weit über das ganze Land erstreckte, doch was für manche Leute Alltag war, konnte sie nur erahnen. Und außerdem machte ihr Begleiter gar nicht den Eindruck, als würde er derart am Hungertuch nagen. Erst auf den zweiten Blick fiel auf, dass die Sohlen seiner Stiefel durchgelaufen waren und seine Kleidung an so vielen Stellen geflickt worden war. Dass er all sein Geld bei einem Überfall verloren hatte, musste ein harter Schlag für ihn gewesen sein.
„Dann sucht und... findet Ihr also wirklich Leute für Geld?"
Jared sah sie verärgert an. Er brauchte einen Atemzug, ehe er antwortete.
„Das auch, ja." Gleichgültig zuckte er mit den Schultern. „Lasst das bitte alles sein, was Ihr wissen wollt."
Dannielle nickte verständnisvoll.
Sie sah ihm an, dass dieses Gespräch viel zu persönlich für seinen Geschmack sein musste. Was ging es sie an, darüber zu urteilen? Aber dann fiel ihr der verschlungene Bronzering ein, den sie noch immer in ihrer Tasche mit sich herum trug. Sie hatte ihn irgendwie aus Versehen behalten und es hatte sich noch keine wirklich gute Gelegenheit ergeben, ihn zurückzugeben und das Missverständnis aufzuklären. Er musste denken, dass auch der Ring ihm gestohlen worden war. Vielleicht ein Andenken an eine Frau? Doch eine Familie? Vielleicht log er, damit sie keine Informationen über ihn sammelte...
Sie entschied sich, diesen Gedanken für sich zu behalten und beschloss, ihn mit Geschichten über die Gegend abzulenken.Nicht weit entfernt gab es eine Art Feenquelle, von der die Leute behaupteten, dass dort Wesen in und aus einer anderen Welt hinübertreten konnten. Es rankten sich die absurdesten Mythen um diese Stelle. Bald schmunzelte er und Dannielle musste lachen.
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Der Ring der Herzogin ✓
Historische RomaneEin Buch. Es ging um ein einziges, verstaubtes Buch. Es war weder besonders groß, noch besaß es außerordentlich viele Seiten. Es verfügte auch nicht über bunte handgemalte Bilder, noch hatte der Verfasser umfassendes Wissen der Kalligrafie besessen...