Kapitel 1 - Ein Diebstahl

864 80 841
                                    



Das Buch mit dem verblassten Tintenfleck auf dem mit Silber beschlagenem ledernen Einband lag auf dem Kaminsims der Bibliothek des Anwesens. Die Kälte eines Winterabends drang geduldig durch die dicken Mauern und die geschlossenen Fensterläden. Dann und wann gab der Wind, der um die Zinnen und Türme wehte, ein unheilvolles Heulen von sich, das bis in den großen Raum im Erdgeschoss des Gebäudes hallte.

Die Bibliothek verfügte über einen massiven Schreibtisch aus dunklem Eichenholz, auf dem zu jeder Zeit Tinte und Pergament bereitlagen. Im Kamin befanden sich einige Scheite Brennholz, um immerzu dem Raum mit einem behaglichen Feuer die Wärme zu verleihen, die es an einem kalten Winterabend brauchte. Kerzen steckten in Leuchtern, um überall Licht zu spenden, sollte sich einer der Bewohner des Anwesens dazu berufen fühlen, seine Zeit hier bei den Büchern zu verbringen.

Doch es war niemand da.

Stille Trauer erfüllte die Räumlichkeiten.

Der Tod eines Familienmitgliedes ließ die Dienerschaft andächtig flüstern, hüllte das Anwesen ein, wie ein schwarzer Schleier. Die Familie hatte sich in ihre Gemächer zurückgezogen. Besuchern war es frei zu kommen und die Trauer um den verstorbenen Herrn des Hauses zu teilen.

Schnee fiel auf die Dächer.

Hier und dort stieg Rauch auf.

Ein paar Mägde entzündeten in der kleinen Kapelle ein paar Kerzen und beteten für die Seele des Verstorbenen, ehe sie zurück an ihre Arbeiten gingen, wie sie es seit jeher taten. Das zierliche Licht der Flammen spiegelte sich in dem teuren Buntglasfenster, das die Geburt Jesu Christi darstellte.

Das Holz der Gemäuer knackte. Das Geräusch klang beinahe freudig, in der willkommenen Erwartung, die Mühen des Arbeitstages beenden zu können und sich in die dunkle Trauer des Januarabends zurückziehen zu dürfen. Allein zu sein.

Das Licht der Kerzen flackerte unstet, wie in einem Luftzug.

Und plötzlich bewegte sich eine einzelne Flamme.

Sie entfernte sich von den anderen.

Kurz schien es, als würde der Schatten einer menschlichen Hand sie vor dem Ausgehen bewahren, ehe sie in eine kleine Laterne gestellt wurde. Das Licht schwankte kurz. Dann verließ es die Kapelle.

Es bahnte sich den Weg durch das Schneegestöber auf dem Hof, hielt kurz inne, ehe die Tür zum Hauptgebäude für eine Sekunde geöffnet wurde und verschwand daraufhin im dunklen Inneren des Gebäudes, als würde es ausgehen.

Hier war es so dunkel, dass die kleine Flamme es kaum schaffte, einen ganzen breiten Korridor zu erleuchten. In seinem Licht erschienen die glänzenden Rüstungen und bunt bemalten Truhen, die die Wände säumten, wie dunkle Schatten in farblosem Grau. Am rechten Ende lag eine große Treppe, die hinauf in die oberen Stockwerke und somit in die Dunkelheit führte. Rechts und links davon verbreiterte sich der Gang und führte zu beiden Seiten in andere Bereiche des Haupthauses.

Das Licht huschte an den Rüstungen vorbei, getragen von seinem eigenen Schatten, ließ die breite Treppe rechts hinter sich und warf seinen Schein kurz auf einen dicken, kunstvoll gewebten Teppich, ehe es diesen wiederum in Finsternis zurück lies.

Das Licht und sein Schatten glitten um eine Ecke, eilten eine kleine Treppe hinauf, die nur aus fünf Stufen bestand und wandten sich nach links.

Sie schienen etwas zu suchen. Etwas Bestimmtes, von dem sie offenbar ganz genau wussten, wo sie danach suchen mussten. Sie mussten nur die richtige Tür finden.

Im Licht der Laterne zog sich der Schatten die Handschuhe von den Fingern und begann sorgfältig eine Tür abzutasten. Was er zu finden hoffte, musste etwas sein, das sich im Licht der Kerze nicht erkenntlich zeigen würde.

Der Ring der Herzogin ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt