TW: Gewalt
Daemon kratzte sich nervös an der Nase und strich ein paar Eiskristalle aus seinem beginnenden Bartansatz. Eine blassrote Abendsonne schien und tauchte die winterliche Landschaft in einen seltsam feuchtkalten Nebel, der sofort gefror, wenn er sich auf Kleidung oder Haaren niederschlug.
Es waren nur noch zwei Tagesritte bis Liverpool. Einen Tag und einen halben, wenn man sich beeilte. Dann würde er das Land verlassen und Jared würde ihn nicht mehr finden können.
Er atmete tief ein und geräuschvoll wieder aus. Natürlich würde Jared ihn auch dann noch finden können, wenn er sich in einem anderen Königreich aufhielt. Es war töricht, das Gegenteil anzunehmen. Aber es würde zumindest schwieriger für ihn werden. Einen größeren Aufwand bedeuten. Und wenn Daemon sich nur ein bisschen Mühe dabei geben würde, seine Spuren zu verwischen, mochte er vielleicht sogar unauffindbar sein.
Er lächelte unsicher. Es würde nicht mehr lange dauern...
Langsam erstarb Daemons Lächeln und verwandelte sich in ein besorgtes Kopfschütteln.
Es würde nie und nimmer funktionieren. Er hatte nicht mal mehr ein Pferd, mit dem er seinen Vorsprung halten konnte.
Es war nicht möglich, Jared aufzuhalten, wenn der sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte. Es war möglich, Verzögerungen herbeizuführen. Es war möglich, ihm zu helfen, um größere Schäden zu verhindern. Aber es war bestimmt nicht möglich, vor ihm zu fliehen, wenn das Letzte, was Daemon getan hatte, war, ihm einen nicht tödlichen Giftpfeil in den Hals zu stechen und ihn in den Händen jener zurückzulassen, die er zuvor bestohlen hatte! Er verfluchte sich selbst für seine Torheit. Er hätte nie auf den Iren hören sollen.
Er stolperte über eine gefrorene Unebenheit des Bodens, was dem Esel, den er am Zügel neben sich herführte, ein missbilligendes Geräusch entlockte, das sich in Daemons Ohren jedoch wie ein abfälliges Lachen anhörte. Daemon blieb empört stehen.
„Du lachst mich doch nicht etwa aus, oder doch?", fragte er in vorwurfsvollem Ton an den Esel gewandt. Das Tier hob den Kopf ein wenig, blieb aber sonst unbeeindruckt.
Daemon seufzte.
„Schon gut..." Er strich dem Esel über die Seite. „Wenn irgendjemand an dieser ganzen Misere nicht schuld hat, dann du", gab er unwillig zu und setzte sich wieder in Bewegung. „Seit ich dieses Buch an mich genommen habe, habe ich nichts als Pech", redete er weiter zu sich selbst. Der Esel folgte ihm schweigend. „Erst verliere ich einen ganzen Tag, indem ich mich im Wald verlaufe... Kannst du dir das vorstellen? Ich verlaufe mich niemals im Wald. Das muss vollkommen unter uns bleiben! Dann bestiehlt mich diese Hure und zu guter Letzt tritt sich mein Pferd einen Stein in den Huf und lahmt so sehr, dass ich es gegen dich eintauschen musste." Niedergeschlagen ließ er den Kopf hängen. „Es muss ein Fluch auf diesem Buch liegen! Wenn der Ire heute Abend nicht dort ist, werfe ich das nutzlose Teil in den nächsten Misthaufen! Dann kann er selbst in der Scheiße graben", beschloss er.
Er war nun bereits seit drei Tagen auf dem Weg zu dem Treffpunkt, den er mit dem Iren Tenebros McGalen zuvor vereinbart hatte. Die dichten wilden Wälder des Nordens waren einer nach und nach zivilisierteren Vegetation von Feldern, kleinen Gärten und Bauernhöfen gewichen, je näher er der großen Handel treibenden Stadt mit ihrem Hafen gekommen war. Die Stadt hatte aufgrund der sicheren Anlegeplätze für sowohl kleine Fischerboote, als auch große Frachtschiffe an der Mündung des Flusses Mersey eine herausragende Zukunft vor sich, die die Leute anzog und zum Bleiben bewegte. Daemon beobachtete eine ältere Frau, die nicht fern der Straße mit einer großen Harke einen runden Kohlkopf aus ihrem mit einem kleinen Zäunchen umrandeten Garten schlug. Er unterdrückte den Impuls, ihr einen anzüglichen Pfiff zu schenken, als er ihr Gesicht sah. Glücklich mit ihrer Beute zog sie sich ein farbloses Wolltuch enger um die Schultern und verschwand wieder im Inneren ihres Hauses, hinter dem die rote Sonne sich langsam dem Horizont näherte. Die Landschaft um ihn herum versank in blass dunklem Grau. Am Horizont zeichneten sich die neu entzündeten Feuer einer Ortschaft ab. Seines Ziels.
DU LIEST GERADE
Der Ring der Herzogin ✓
Historical FictionEin Buch. Es ging um ein einziges, verstaubtes Buch. Es war weder besonders groß, noch besaß es außerordentlich viele Seiten. Es verfügte auch nicht über bunte handgemalte Bilder, noch hatte der Verfasser umfassendes Wissen der Kalligrafie besessen...