Gemächlich senkte sich die Abenddämmerung herab und tauchte die Wiese vor den Stadttoren in ein bläuliches Licht. Nachtfalter und Glühwürmchen erhoben sich aus den Gräsern, die sich tänzelnd zu den Klängen der Zigeunerfideln im lauen Abendwind wiegten. Dannielle kniete neben Jared und hatte ihre Finger mit den seinen verschränkt, während die alte Heilerin der Zigeuner seine Kopfverletzung untersuchte. Er drückte sie fest, nachdem er ihr zuerst versichert hatte, dass er für diese Untersuchung sicher keinen Beistand benötigte.
Ihr Dieb hatte nach seinem kurzen morgendlichen Ausflug den ganzen restlichen Tag in ihrem Zelt auf seinem Lager verbracht und geschlafen. Aber selbst, nachdem er vor Kurzem erwacht wahr, hatten sie nicht viele Worte miteinander gewechselt. Er hatte ihr ein Lächeln geschenkt, das Dannielle irritiert als wehmütig einordnete und dann etwas von Kopfschmerzen gemurmelt, während er sich die Schläfen massierte.
"Deine Wunde heilt gut", beurteilte die Alte schließlich und wandte sich dem Rest seines Körpers zu.
"Aber wenn ich nur ein paar Schritte mache, fühle ich mich danach so müde, als könnte ich wochenlang schlafen. Das kann doch nicht richtig sein", wandte ihr Dieb ein.
Die Alte schnalzte keckernd mit der Zunge und hielt eine Laterne in sein Gesicht, um ihm erst in das eine und dann in das andere Auge zu leuchten. Jared ließ die Prozedur zu Dannielles Überraschung ohne Widerworte über sich ergehen.
"Doch das ist genau der Effekt, den ich erzielten wollte", raunte sie. "Ich kenne Jungen wie dich. Springen aus Baumkronen herab, brechen sich die Rippen und stürzen sich keine zwei Tage später von der nächsten Klippe, ohne ihrem Körper genügend Zeit zu geben, um zu regenerieren."
Dannielle musste bei den Worten der Alten milde Lächeln. Sie beschrieb ihren Dieb tatsächlich haargenau.
"Also, sorge dich nicht, Ariki, die Müdigkeit wird schon wieder vergehen."
Dannielle beobachtete, wie sie ihm mütterlich die Wange tätschelte.
"Und der Kopfschmerz?", fragte Jared weiter. "Kann ich nachher zum Schlafen noch mehr von eurem Zaubertrank haben?" Dannielle runzelte die Stirn. Obwohl Jared sich über die Müdigkeit beschwerte, kam es ihr seltsam vor, dass er nach mehr von dem Trank fragte, der ihm diese offensichtlich beschert hatte.
Die Miene der Alten wurde ernst.
"Nein! Es ist wichtig, te inu in Maßen zu sich zu nehmen. Sonst kannst du nicht mehr ohne schlafen."
Ihr Dieb verdrehte genervt die Augen, was der Alten nicht entging, denn schadenfroh lachend fuhr sie fort.
"Ich habe dir gegen den Kopfschmerz etwas Pfefferminztee mitgebracht. Solltest du versuchen. Er wirkt wahre Wunder."
Mit diesen Worten erhob sie sich mit Hilfe ihres geschwungenen Stocks und zeigte mit dessen Spitze auf einen dampfenden Krug, den sie zuvor am Eingang des Zeltes abgestellt hatte. Dann verabschiedete sie sich mit einem Nicken in Dannielles Richtung.
"Ja, er wirkt aber vermutlich erst dann wahre Wunder, wenn ich eine halbe Flasche Schnaps hinzugebe", antwortete Jared missmutig, nachdem die Heilerin allerdings längst außer Hörweite gewatschelt war.
"Ich finde, du solltest ihn probieren", widersprach Dannielle. "Es riecht nicht nur nach Pfefferminz. Bestimmt ist noch irgendetwas Anderes enthalten, das helfen wird." Mit diesen Worten reichte sie ihm eine leichte Decke, die er wie ein Umhang um seine Schultern schlang. Nach dem Kampf mit Maurice war sein Hemd voller Risse, Schmutz und Blut gewesen und war mitsamt den Erinnerungen im Feuer in Flammen aufgegangen.
Als Nächstes griff sie nach dem Krug und schenkte etwas der Flüssigkeit in einen kleinen irdenen Becher, den sie ihm reichte. Jared nahm einen Schluck und verzog angeekelt das Gesicht.
"Das ist noch bitterer, als das, was du mir in England andrehen wolltest", beschwerte er sich. "Irgendwann müsst ihr Hexen zugeben, dass ihr mich eigentlich vergiften wollt. Wollen wir nicht erst lieber was Richtiges essen gehen? Danach trinke ich jeden Schierlingsbecher, den du mir vorsetzt."
Dannielle prustete.
Er gab ihr den Becher zurück und sie füllte ihn erneut. Erst als er auch diesen geleert hatte, gab sich Dannielle zufrieden und zog ihren Dieb mit sich in die Mitte des Lagers ans große Feuer.
***
Daemon saß bereits auf dem platt getretenen Boden und schaufelte sich eine große Portion Spanferkel samt eingelegtem Kohl in die vollen Backen, als auch Dannielle und Jared sich neben ihm niederließen, um zu essen. Überall im Lager wurden Laternen und Fackeln entzündet und eine lange Schlange an bunt gekleideten Menschen drängte sich an der Essensausgabe.
Jankó gesellte sich zu ihnen und goss ihnen Ale in ihre alsbald leeren Becher. Ein hinterhältiges Lächeln, das Dannielle nicht einordnen konnte, beherrschte seine Züge, als er sich setzte.
„Oku hoa...", begann er, „Meine Freunde, wie ihr sicherlich wisst, seid ihr hier immer gern gesehen, doch was wir bis jetzt noch vermissen, ist ein kleines Gastgeschenk, eurerseits!" Sein Grinsen reichte fast bis an seine Ohren. "Eines, das unsere in Freundschaft gesprochenen Worte besiegelt."
Dannielle runzelte die Stirn. Jankós Worte standen im Gegensatz zu dem Eindruck, den sie bisher von der Hilfsbereitschaft der Zigeuner erhalten hatte.
Aber Jankó schien auch dafür eine Lösung zu haben. Immer noch grinsend winkte er einem der Musiker, der am Feuer stand und nahm dessen Laute entgegen, um sie Jared in die Arme zu drücken.
"Es fehlt noch ein Lied." Erwartungsvoll nickte er.
Dannielle hielt überrascht ihren Becher umklammert, während sie ihren Dieb dabei beobachtete wie er die Laute unbeholfen über sein Bein legte und ein paar Töne anschlug. Sie hatte Jared noch nie singen hören oder ein Musikinstrument spielen sehen. Gespannt sah sie zu, ob er es beherrschen würde.
Es war ein wundervolles Stück Handwerksarbeit und bestimmt doppelt so viel Wert wie die Besten aller Straßenmusiker. Seine flinken Finger fanden erst mühevoll, dann jedoch immer schneller und sicherer die Saiten und langsam schien es, als würde die Erinnerung an eine vergessene Kunst zurückkehren. Sein Blick fiel auf Dannielle und sogleich verhaspelte er sich.
Dannielle lächelte verlegen, sein hilfesuchender Blick streifte den ihren. Vielleicht fiel ihr ja etwas ein, was er zu spielen vermochte.
„Chevaliers de la Table Ronde,
Allons voir si le vin est bon!"
Dannielles Stimme erklang sanft und leise, doch als Jared ihren Gesang mit der Laute zu unterlegen begann, stärkten sich ihre Töne und die Melodie erreichte einen jeden, der um das Feuer saß.
„Allons voir, oui, oui, oui
Allons voir, non, non, non"
Sie spürte die Blicke der Zigeuner, die sie interessiert ansahen und anfingen leise mitzusummen. Daemon jedoch sah nur verdutzt drein und mied die Blicke der anderen. Er trank seinen Becher leer, verschluckte sich und sein Vorhaben endete in einem Hustenanfall.
„Nun komm schon!", ermunterte ihn Dannielle, „Ein Trinklied wirst du ja wohl singen können!"
„J'en boirais..."
Sie stupste ihn an. Er stöhnte und ein „Oui, oui, oui" kam über seine Lippen, die sich langsam zu einem Lächeln formten. Dannielle hätte nicht damit gerechnet, dass sich seine Stimme so gut in ihren Klang einfügen würde. Aber zusammen hörte es sich noch viel besser an.
Jared lächelte zufrieden.
Er wiederholte die Melodie der ersten Strophe noch einmal langsam und schlug dann schnellere und härtere Töne an. Dannielles Stimme erhob sich und wurde lauter, je mehr Leute in ihrer Nähe sogar mit sangen. Offenbar kannten einige das Lied und bald erschallte ein lautes:
„OUI, OUI, OUI!" und „NON, NON, NON!"
Von ihrem Feuer her und lockte weitere Männer, Frauen und Kinder an.
Ebenso gesellten sich auch Trommler, Fiedler und Dudelsackspieler zu ihnen und bald gab es kaum noch einen der Gemeinschaft, der nicht um sie herum stand oder mit sang.
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Der Ring der Herzogin ✓
Ficción históricaEin Buch. Es ging um ein einziges, verstaubtes Buch. Es war weder besonders groß, noch besaß es außerordentlich viele Seiten. Es verfügte auch nicht über bunte handgemalte Bilder, noch hatte der Verfasser umfassendes Wissen der Kalligrafie besessen...