Dannielle bahnte sich einen Weg durch die engen Straßen zum Marktplatz. Es war kühl in der Gasse, die Sonne hatte sich bereits verabschiedet und die hohen Wände hielten das wenige Tageslicht, dass noch da war, davon ab in die Häuserschlucht zu gelangen. In Gedanken war sie noch immer bei Tabitha und ging noch einmal jegliche Informationen durch, die ihr die Alte heute über das Kartenlesen verraten hatte. Es waren viele Symbole und Kombinationen, die sie sich merken und zusammen setzen musste. Jedes von ihnen war anders, einige glichen sich, und waren daher leicht zu verwechseln, doch Dannielle war bemüht, jedes zu trennen und alles zu behalten, was sie gelernt hatte.
Diese Kunst faszinierte sie immer mehr und immerzu freute sie sich, dass sie ein so seltenes und besonderes Wissen erlernen durfte. Es war kein Geheimnis, das sie mit sich herumtrug. Es war kaum möglich mit der Familie zusammenzuleben und ein Geheimnis zu hüten, doch wie weit ihre Fähigkeiten inzwischen reichten und wie sehr ihr Wissen um die Wahrsagerei gewachsen war, wollte Dannielle gerne weiterhin für sich behalten, bis sie es tatsächlich brauchen würde.
„Du wirst es fühlen...", hatte Tabitha ihr anvertraut, „Vertraue auf deine innere Stimme! Wenn die Zeit reif ist, wirst du deine Fähigkeiten zu nutzen wissen." Dannielle hatte ob dieser furchtbar hilfreichen und klischeehaften Aussage milde gelächelt und genickt.
Sie hob ihre Röcke, um ein paar Stufen zu erklimmen, von denen die Stadt Artieda mehr als genug besaß. Am Rande einer Hochebene in den Pyrenäen erbaut, saß die Ortschaft auf einer kleinen, den höheren Bergen vorgelagerten Hügelspitze und ermöglichte von jedem Punkt aus einen wundervollen Ausblick auf die im Abendlicht leuchtenden Berghänge. Tief in Gedanken versunken bog sie um eine Straßenecke und wäre fast mit Lucida zusammengestoßen, die sich auf ihren Auftritt vorbereitete.
Das Whanaumädchen war damit beschäftigt, die flammenden Fächer, mit denen sie ihren Tanz akzentuierte in Lampenöl zu tränken, um sie zu späterer Stunde in Brand stecken zu können. Als Dannielles Schritte ins Stocken gerieten, sah sie abgelenkt zu ihr auf.
In ihren dunklen Augen loderte eine helle Flamme.
Dannielle biss sich auf die Lippe. Um nichts in der Welt hatte sie dieses Aufeinandertreffen herbei gewünscht. Doch an ein Umdrehen war längst nicht mehr zu denken. Damit hätte sie nur klein beigegeben und es würde aussehen, als würde sie weglaufen.
Sie warf einen Blick die Straße hinab, an deren Ende sie den Marktplatz entdecken konnte, auf dem sich bereits einige Menschen tummelten. Sie wollte Lucida ignorieren und sich an ihr vordrängeln, doch diese verschränkte die Arme und stellte sich ihr demonstrativ in den Weg.
Dannielle seufzte. Sie hatte keine Lust auf dieses Spiel.
"Was willst du, Lucida?"
Das Whanaumädchen schürzte die Lippen und schnalzte keckern mit der Zunge.
"Oh nein, Prinzessin. Die Frage ist doch, was willst du?" Ihre Stimme war ein bösartiges Zischen, wie das gefährliche Rasseln einer Schlange. Ein höhnisches Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht.
Dannielle schwieg. Alles in ihr schrie danach, sich umzudrehen und einen anderen Weg einzuschlagen. Den Konflikt zu vermeiden. Doch sie blieb stehen, wo sie war. Lucida schien ihr Schweigen als Unsicherheit zu deuten.
"Oh, hast du etwa Angst, Prinzessin? Hat es dir die Sprache verschlagen?" Lucida machte einen wiegenden Schritt auf sie zu. Das verborgene mit Münzen und Glöckchen besetze Kostüm unter ihrer Kleidung raschelte leise. "Hast du begriffen, dass du nicht immer das bekommen wirst, das du dir wünscht und willst es nun nur umso mehr? Ihn?"
Dannielles Lippen öffneten sich vor Verblüffung, ohne einen Laut hervorzubringen. Doch dann kochte die Wut in ihr hoch.
"Was bildest du dir eigentlich ein?", fuhr sie sie an. Es war ihr sogar egal, ob der Nachtwächter sie wegen Ruhestörung zur Ordnung rufen würde. "Hurst herum als wärest du nicht viel besser, als all die leichten Mädchen. Fühlen sich deine anderen Freier nicht vernachlässigt, wenn du dich einzig und allein so rührend um Jared kümmerst? Oder bringst du sie alle gar gleichzeitig unter deinen Rock?"
Dannielle beobachtete, wie sich Verblüffung auf den Zügen des Whanaumädchens abzeichneten, als hätte sie nicht erwartet, dass sie zurück schlagen würde. Doch nur für eine Sekunde. Dann verhärtete sich ihr Gesichtsausdruck wieder.
"Keineswegs", schnurrte sie. "Ich sagte, sie sollten sich an dich wenden, da du ja offenbar Gesellschaft nötig hast! Ist noch keiner bei dir aufgetaucht? Seltsam... Vielleicht fanden sie dich einfach nicht hübsch genug." Ein herablassender Blick streifte Dannielle. „Ist das ein Wunder?"
Dannielle schüttelte erbost den Kopf.
"Das muss ich mir wirklich nicht anhören. Nicht von jemandem wie dir." Erneut versuchte sie sich an Lucida vorbeizuschieben, doch diese hob ihren Arm und versperrte Dannielle in der engen Gasse vollständig den Weg.
"Was hast du vor, hm? Dich wie bei jeder Vorstellung ins Publikum schleichen, ihn anschmachten und hoffen, dass er dir nur einen einzigen Blick schenkt?" Ihre Worten waren voller Hohn. "Aber das kannst du vergessen. Jede Note, die er spielt, jedes Lied ist einzig und allein für mich bestimmt!"
Dannielle ballte ihre Hände zu wütenden Fäusten.
„Du willst ihn." Lucidas Worte hallten leise in ihrem Kopf. „Du willst ihn und du kannst ihn nicht bekommen! Weil er mir gehört! Und er wird auf ewig mir gehören!"
„Ich glaube eher, dass du ihn willst. Aber da du weißt, dass du ihn nicht haben kannst, willst du sicherstellen, dass ihn auch keine andere hat!"
Sie schob Lucidas Arm unsanft zur Seite und bahnte sie sich endgültig einen Weg zwischen der Whanaufrau und einer Häuserwand hindurch, ehe sie sich noch einmal umwandte.
"Du wirst ihn nicht halten können. In zwei Tagen wird er mit mir und Daemon ziehen. Il va te abadonner, ma chère!" Er wird dich verlassen, meine Liebe! Ein wenig erschrak sie über sich selbst und ihre Schadenfreude, obwohl sie nicht einmal halb so überzeugt von ihren Worten war, wie sie vorgab zu sein. Sie kostete jedes einzelne Wort, jede Silbe aus, und genoss die Reaktion, die sie hervorrief.
Lucidas Augen verengten sich für eine Sekunde zu Schlitzen.
„Und dessen bist du dir sicher, sì? Mir erzählte er etwas ganz anderes." Scheinheilig hob sie ihre Hand zum Kinn und tat, als würde sie überlegen. „Was war es noch gleich? Ach ja: Er hatte noch nach passenden Worten gesucht, mit denen er euch angemessen erklären kann, dass er euch verlassen und mit meinem Volk ziehen wird."
Dannielle hob zweifelnd die Augenbrauen. Ein Stich fuhr in ihr Herz. Niemals hatte sie geglaubt, dass es noch so viel länger so unendlich viel mehr schmerzen konnte. Verzweifelt suchte sie in den Augen ihres Gegenübers nach einer Lüge, irgendeinem Hinweis, dass Lucidas Worte nicht der Wahrheit entsprachen.
Sie fand nichts.
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Der Ring der Herzogin ✓
Ficção HistóricaEin Buch. Es ging um ein einziges, verstaubtes Buch. Es war weder besonders groß, noch besaß es außerordentlich viele Seiten. Es verfügte auch nicht über bunte handgemalte Bilder, noch hatte der Verfasser umfassendes Wissen der Kalligrafie besessen...