November
tom grennan, sleeping rough
"Hey, Donghyuck, geht es dir gut?"
Ein erster Schneemann mit eigens programmierter Lichterkette klebt an Marks Bürofenster - bestimmt wieder von der Hardware-Abteilung, wie jedes Jahr. Donghyuck zupft nervös an seiner Krawatte. Gut, dafür, dass er eigentlich meistens ziemlich rational ist, hat er gestern Abend etwas zu intensiv über Kyung und Mark nachgedacht, zu viel geweint, alleine zu viel von dem Rotwein getrunken, den Jihyeon einmal bei ihm vergessen hat, zu viel von Jenos Katertrank gleich hinterhergekippt und viel zu viel Schlaf verloren. Viel zu oft hat er überlegt, Mark anzurufen (weil warum nicht) und heute morgen - eigentlich schon seit vier Uhr immer wieder mal - viel zu viel erbrochen.
Und das schlimmste an der ganzen Sache ist, dass der Computerspezialist die Ursache der Situation nicht einmal mehr klar ausmachen kann. Erlaubt er sich das, weil er seinen Neffen vermisst, eben weil dieser nicht da ist und er keinerlei Verantwortung hat, weil er sich ohnehin schon für schlecht hält, wegen der verzwickten Lage mit Mark oder seinen langen, philosophischen Gesprächen mit Gaeul, oder doch nur wegen dem Gefühl, irgendwas fehlt am SANA-Projekt noch? Oder eine Summe von allem? Kyung kommt zwar nach Hause, aber das - wenn auch baldige - Datum seiner Rückkehr wird nichts, aber auch gar nichts ändern - an seiner Unfähigkeit, den Jungen schnell und autonom ins Krankenhaus zu fahren, wird sich in naher Zukunft nichts tun, genauso wenig wie Donghyuck bezweifelt, dass er wegen und mit Mark eine gute Lösung findet.
"Ja. Alles okay, Boss." Donghyuck lächelt steif. Er hat Marks Abstand am Montag und seine verschlossene Art gar nicht erst versucht zu deuten, nicht bewusst, aber das Verhalten seines Vorgesetzten hat ihn verunsichert und er hat es einfach für das Beste gehalten, das freundschaftliche und doch reservierte Mitarbeiter-Boss-Spiel weiter zu spielen. "Sicher, Donghyuckie?" Mark legt den Kopf schief und umfasst seine Tasse Kaffee, die der Jüngere ihm vorhin gebracht hat, mit beiden Händen. Donghyuck zuckt kaum merklich zusammen. Gedanklich hat er sich schon halb darauf eingestellt, dass Mark Lee ihn nie wieder so nennen wird. "Die SANA Beta ist fertig. Das große Ganze ist erledigt. Bist du nicht zufrieden?" Sein Boss klingt wahrlich unbeschwert in Donghyucks Ohren und statt ihm dankbar zu sein für den Aufmunterungsversuch (der Mark im Übrigen alles abverlangt), wird er wütend auf ihn, wie mühelos und wundervoll und glücklich und atemberaubend Mark ist.
"Bin noch nicht zufrieden", murmelt er. Die kalte Traurigkeit, die ihn ständig begleitet, ist weg aus seiner Brust- und Bauchhöhle, macht einer warmen Bitternis Platz. "Naja, die Feinheiten kommen ja noch. Wie geht es Kyung?" Mark stellt seine Tasse ab und bietet dem Dunkelhaarigen den Teller mit Gebäck und Lebkuchen an. "Gut. Er kommt wahrscheinlich bald wieder nach Hause. Die OP klappt dieses Jahr nicht mehr, aber unsere neue Augenärztin hat uns eine wöchentliche Behandlungseinheit ans Herz gelegt, die zumindest die Anfälle verhindern soll. Aber... ach, ist auch egal. Danke sehr." Donghyuck nimmt einen klassischen Lebkuchen und beißt hinein. "Nicht egal. Ich finde es großartig, wenn du mir etwas erzählst. Du hast mir schließlich immer noch nicht mitgeteilt, ob du mich irgendwann wieder bei euren Nachmittagen dabei haben willst." Donghyuck zieht irritiert seine Nase kraus. Er wäre zwar nicht dazu imstande, eine vorwurfsvolle Aussage eindeutig zu bestimmen, aber das war... einfach sanft und warm?
~
"Soll ich dich nach Hause fahren?" Mark legt fürsorglich den Arm um Donghyuck. Sie sitzen bei Mark auf der Couch und haben sich ein paar Folgen 'Weihnachtsmann & Co. KG' angesehen. Es ist zwar noch nicht einmal Dezember, aber es hat halb geschneit und auf der Arbeit hat Donghyuck in einer Wutansprache erwähnt, dass Kyungie nicht zu ihrem traditionellen Serienauftakt am 1. Dezember bei ihm sein würde. Woraufhin Mark ihn um halb fünf einfach mit zu sich genommen hat. Er klappt mit der freien Hand den Laptop auf seinem Schoß zu und er grübelt lange, ob er Donghyucks Kopf kraulen soll.
"Ich weiß nicht. Es ist seltsam ohne Kyung. Ich will... nicht allein sein", gibt der mit gesenkter Stimme zu und sinkt mehr in Marks Seite. Mark fährt mit den Fingerspitzen behutsam an die Kopfhaut seines Mitarbeiters. "In Ordnung. Du kannst wieder das Gästezimmer haben. Und du kannst mich jederzeit wecken, okay?", sagt er leise. Donghyuck schüttelt heftig den Kopf. "Ich verschwende definitiv nicht deinen Schlaf, nur wegen meiner irrationalen Emotionen!"
"Ach, es wäre mir eine Freude, dir und deinen irrationalen Emotionen helfen zu können. Mach dir keinen Kopf um mich. Aber soll ich dich für morgen beurlauben? Du siehst furchtbar niedergeschlagen aus, Donghyuckie." Er stupst Donghyuck gegen die Nasenspitze. "Auch wenn du wirklich niedlich in meinen Klamotten aussiehst. Hab ich letzte Woche schon festgestellt, als du mit mir essen gegangen bist. In smart casual." Er lacht leise. Donghyuck rutscht näher, um mehr von dem Lachen miterleben zu können. Gleichzeitig schüttelt er den Kopf. "Nicht schon wieder. Die Kollegen haben mich schon letztes Mal gelöchert, weil ich nie krank bin. An meinem Schreibtisch war sogar eine Gute-Besserungskarte von Jisung!"
Mark lacht leise. "Jisung ist wohl wirklich der Einzige, der denkt, dass du wirklich krank warst, Donghyuck. Alle anderen tuscheln non-stop." Er macht eine Pause und mustert den Anderen lange und eingehend. "Hast du schon überlegt, wie es weitergehen soll? Mit... uns?" Einfühlsam und unverbindlich und trotzdem wirft die Frage Donghyuck hochkant aus allen seinen Konzepten und aus der Traumwelt der letzten Stunde, in der er einfach mit dem Älteren hier gesessen und eine Kinderserie geguckt hat. "Nein, man, ich bin berufstätig, falls es dir nicht aufgefallen ist", zischt er gereizter als geplant. Mark zieht seine Hand aus seinen Haaren, um sie beide zu heben. "Wow, wow, wow, ist ja gut."
Keiner sagt etwas, bis Donghyuck sich räuspert. An dieser Stelle kommt eine Entschuldigung, Renjun hat ihm das schon hundert mal er-
"Würdest du zurückküssen?"
Mark Frage kommt unerwartet in mehreren Hinsichten. Donghyuck blinzelt nach links zu seinem Boss. "Entschuldigung?" Eigentlich ist die Entschuldigungsfloskel in seinem Kopf anders, länger und weniger fragend ausgefallen, aber so passt es auch. Er spürt die Hitze in seinen Wangen, versucht sie niederzukämpfen Der Blonde lächelt. Donghyuck ist wahnsinnig schlecht im Deuten von jeglicher Mimik, ist das offensiv-herausfordernd oder verlegen oder frech oder resigniert? In jedem Fall ist sein Lächeln schön, wunderschön und es raubt Donghyuck den Atem. "Ja", sagt er leise, "und das ist ein Fehler..."
"Wieso ist es ein Fehler, Donghyuck?" Marks undefinierbares Lächeln wird nur minimal schwächer, Donghyuck merkt es gar nicht. "Ich hab mich gerade damit abgefunden, dass es kein Fehler ist, Jungs zu küssen."
"Ist es auch nicht... aber Kyungie... Es wäre ein riesiger Fehler und definitiv nicht das, was der Junge jetzt braucht, Mark."
"Es ist nicht deine Mission, ihm das zu geben, genau das, was er braucht, verdammt!" Mark fährt sich durch die Haare und schnauft laut aus. "Außerdem, Donghyuck, es gibt Dinge im Leben, die du einfach nicht kommen sehen kannst! Das Leben ist nicht Java oder Phyton oder alles andere, das einem klaren Konzept folgen." Er zieht seine Augenbrauen hoch und schaut den Jüngeren durchdringend an. Donghyuck windet sich. "Ich will doch nur ein guter Onkel sein", murmelt er niedergeschlagen. "Ich bin ziemlich sicher, dass du der beste bist. Und das kannst du auf ich schieben." Er lehnt sich rüber und greift nach Donghyucks Kiefer, zieht seinen Mund für einen Kuss näher. "Okay?" Der Jüngere nickt nur wortlos und hingerissen und fasziniert. Mark küsst seine Lippen einmal kurz. Es ist mehr wie ein Hauch, wie ein Küsschen, und es ist perfekt und nicht genug zugleich, aber er fühlt sich nicht, als wäre er in der Position irgendetwas zu ändern oder gar zu verlangen.
Er sitzt nur neben Mark und genießt seine Lippen, unfähig, irgendetwas zu tun, reglos, reuevoll, weil er es nicht mal erwidern kann. Ein Küsschen. Zwei Küssen. Acht Küsschen. "Ist Küssen sowas wie Haskell? Du bist... ziemlich gut darin", nuschelt Donghyuck völlig verzaubert, als Mark den Kopf zurückzieht. Er fährt mit seinen Fingern sanft über Donghyucks Wangen und lächelt verträumt. "Ich wollte dich nicht zwingen." Er kichert, als er sieht, wie der Jüngere geistesabwesend seine Lippen befühlt. "Und ich würde wirklich gerne sagen, es täte mir leid. Aber ich bin ein schrecklicher Lügner."
Mark nimmt seine Hände wieder zurück zu sich. "Vielleicht war das wirklich dumm und ein Fehler. Aber du solltest schlafen gehen, bevor ich dich nochmal küsse."
Wie oft Donghyuck in dieser Nacht mit der Ausrede von Albräumen oder Unwohlsein oder Kyung-Vermissen zu ihm kam und wie oft, und ob er überhaupt jemals verlauten hat lassen, dass Marks pure Anwesenheit einfach guttut? Tja.