RAWR (2)

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November

"Ui, warum lächelst du?"

"Tue ich nicht."

Josy wirft einen Blick auf das Handy ihres Bruders. Sie sehen sich selten, aber wenn sie es tun, kann sie über ein ganzes Wochenende in Marks Apartment wohnen, was ehrlich gesagt ein willkommenes, luxuriöses Anders ist als das kleine und bescheidene Zweierzimmer ihres Internats. Hier hat sie ein eigenes großes Zimmer mit Badezimmer, mit gold-beigem Bad, ein großes Bett mit einem coolen bunten Muster auf der Bettdecke, einen ziemlich entspannten Bruder und keine Regeln. Nur sind ihre gemeinsamen Wochenenden meistens mit einem Termin verbunden und für den Blonden womöglich nur Mittel zum Zweck und Bruderpflicht. Josy weiß es nicht und bisher hat sie sich nicht getraut, den Älteren danach zu fragen. 

Mark ist nett zu ihr und cool, aber ehrlich gesagt ist sich das Mädchen nicht sicher, ob die Freundlichkeit nicht aus Mitleid mit ihr und ihren Kommunikationsdefiziten gewachsen ist. Gerade im Gespräch mit ihrem Bruder ist sie schon viel selbstsicherer geworden, aber viele Gesichtspunkte, die bei anderen vielleicht unter neugierig oder sogar zu weit laufen, sind nicht durch ihre Wissbegierde begründet, sondern weil sie in Konversationen nie so wirklich ein Gespür für den richtigen Ton, die richtigen Worte oder Grenzen entwickeln kann.

"Doch, tust du, du lächelst. Wer ist Donghyuckie?" Sie nimmt sich ein Gemüsemesser und beginnt, die erste Zwiebel zu bearbeiten. Davor guckt sie erneut auf das Display und kneift die Augen zusammen. "Datest du einen alleinerziehenden Vater?", kommentiert sie das Profilbild. Mark schmunzelt. Josy kann echt erfrischend sein, auch wenn er lange gebraucht hat, in einen sorglosen Kontakt mit ihr zu treten. 

"Das ist nicht sein Sohn. Und wir daten nicht." Mark schiebt die Nachricht von Donghyuck weg und tut so, als wäre er nicht höchst neugierig, was der Dunkelhaarige schreibt. Seit Freitag haben sie sich nicht gesehen, und Mark hofft wirklich, der Jüngere entspannt sich ein wenig. Und er hofft noch mehr, der Jüngere macht sich einmal Gedanken, was das bei ihnen jetzt eigentlich ist und wie es weitergeht. Sein Handy zeigt wieder das Rezept an, welches traditionell immer Josy aussucht. "Er ist... ein Freund." Mark wäscht den Kürbis ab und beginnt, ihn laut zu zerhacken.

Josy schaut ihm achselzuckend zu. "Wenn du mich fragst, süßer Kerl. Und doch genau dein Typ, oder? Rawr!" Mark hat ihr erst vor ein paar Monaten von seinem in aller Regel männlichen "Typ" erzählt, der damals im Grunde eine Beschreibung Donghyucks war, der ihn am Tag zuvor den Laufpass gegeben hat.

Und obwohl Josy genau in dem Alter ist, in dem man über Jungs spricht, sind Kommunikation und Gefühle etwas, was das Mädchen besonders schwer miteinander verbinden kann, eine der wenigen charakterlichen Ähnlichkeiten, die sie zu Mark hat. Während Mark dürr und schlaksig ist und eigentlich hellbraune, seit kurzem jedoch blond gefärbte Haare hat, ist Josy klein und mollig und hat eigentlich das goldblonde Haar ihrer Mutter, zurzeit aber nur kinnlang und hellblau.

Und weil sie nicht über ernste Themen reden, was Mark ausgesprochen angenehm findet, antwortet er auch jetzt lediglich mit einem Achselzucken. "Hab ihm gesagt, dass ich dieses Wochenende nicht kann. Wir haben morgen Nachmittag einen Kaffee zu trinken, mit unserem Vater."

"Und ihr seid sicher nur Freunde?" Josy zieht ihre Augenbrauen hoch und die Piercings an ihrer linken Braue glitzern. Mark seufzt. "Er ist süß, ok", gibt er nach, "aber er hat schon klargestellt, dass er momentan nichts will. Und das ist voll okay. Wir sind einfach sehr gute Freunde."

"Rawr. Gute Freunde, alles klar." Josy sieht nicht überzeugt aus. Sie schiebt die erste kleingeschnittene Zwiebel in einen Topf. "Geh doch am Sonntagabend irgendwo hin mit ihm. Ich brauche dich nicht." Ihr fällt nicht auf, wie unglücklich das formuliert ist, und sie legt sich ein Lächeln auf die Lippen. Mark lacht leise. Er weiß, dass es entgegenkommend und lieb gemeint ist, aber viele andere hätten das als zickige Aussage mit gemeinem Haifischgrinsen gedeutet.

"Wenn das okay ist für dich?"

KYUNG [SANA]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt