ACHTZEHN

8 0 0
                                    

12 Jahre später

"Behutsam, behutsam. Weißt du noch, wie wir es damals gemacht haben?"

Mark sitzt auf dem Beifahrersitz des türkis-farbenen Fiat und schaut nach links, wo ein junger Mann sitzt, der sich verkrampft in den Lenker krallt. "Wann?" Kyung schaut frustriert in den Rückspiegel, dann aus der Windschutzscheibe. Beide Bilder sind exakt dieselben wie vor einer Dreiviertelstunde, als Mark sie auf den menschenleeren ADAC-Übungsplatz kutschiert und dann mit ihm Plätze getauscht hat. Er schnauf betrübt durch die Nase aus. "Als wir das erste Mal gefahren sind."

"Auf dem Jahrmarkt zu meinem 15.? Man, das war so peinlich, als du die erste Runde in einem Autoscooter drehen wolltest! Leo zieht mich immer noch auf damit!" Mark lächelt traurig. So lange her. "Nein, bei deiner Einschulung."

"Boah, ist das lange her. Sind wir da nicht zweimal in dem roten Ding gesessen?" Kyung kneift die Augen zusammen und spielt mit den Plüschwürfeln, die am Rückspiegel herabbaumeln. Mark freut sich, dass der inzwischen fast Neunzehnjährige das noch weiß. So halb zumindest. Das ist damals seine erste Zeit mit Donghyucks Neffen ganz allein gewesen. Gut, ganz allein waren sie nie. Renjun oder Jeno oder beide waren meistens da, einmal waren sie bei Jaehyun und einmal bei Ks Tante, und nach ein paar Tagen war Donghyuckie auch schon wieder da. Mit Ausnahme von den schweigsamen Minuten, in denen Renjun und Jeno sich lautstark schimpfend um den WLAN-Router gekümmert haben, als die Skype-Verbindung nach Daegu dauernd abgebrochen ist, und einigen - von Donghyuck erlaubten - Autofahrten zu oben genannten Haushalten, ist Mark nicht oft mit dem sechsjährigen Kyung allein gewesen. Später immer, immer öfter, aber darauf will er nicht hinaus. 

"Der Mitsubishi nur einmal. Aber du wolltest unbedingt in ein Auto mit nur Schaltung, erinnerst du dich? Wir durften in Jaehyuns Wagen."

"Ja, da war was."

"Hast du Onkel Hyuck eigentlich jemals gebeichtet, dass wir Anfahren geübt haben?"

"Jein. Außerdem haben deine Füße nicht mal bis zum Gaspedal gereicht, das kann man vernachlässigen."

"Jein?"

"Das war ein Drama, das kannst du mir glauben." Mark verzieht das Gesicht, deutet ein Schulterzucken an und macht eine wegwerfende Handbewegung. "Ist auch egal jetzt. Ist eh nicht mehr zu ändern." Kyungs Augen blitzen ihn wissbegierig an, wie damals schon, als Mark ihm bei jedem Zoobesuch andere Funfacts zu irgendeinem Tier präsentiert hat. "Nein, erzähl!" Er faltet die Hände gespannt in seinem Schoß und zieht einen Schmollmund, der Mark immer direkt an seinen Onkel erinnert.

"Naja", seufzt er irgendwann, "ich hab ihm das im Mitsubishi erzählt. Mit ausgeschaltetem Motor. Und das fand er schon überhaupt nicht cool. Dann hab ich auf die Geschichte bei Jaehyuns Auto verzichtet." Kyung blinzelt. "Du hast ihn deshalb angelogen?" Mark stöhnt leise. "Angelogen, angelogen. Ich hab ihm nur was verschwiegen, okay? Hättest du auch gemacht, wenn du bei der ersten, harmlosen Sache schon drei Tage auf dem Sofa hättest schlafen müssen!"

"Auf dem Sofa, echt? Habe ich gar nicht mitbekommen, wann war das denn?"

"Als du im Schullandheim warst. Siebte Klasse oder so?"

"Oh, achso. Dann ist das ja echt lange geheim gewesen. Ich hätte es glaub ich ein paar Mal fast ausgeplaudert." Kyung schaut ihn unsicher an. Mark holt sich sorglos M&Ms aus dem Handschuhfach. "Naja, damals hast du deinem Onkel bestimmt auch versprochen, mir nicht zu berichten, wie attraktiv er meinen rotes Oberteil fand", zwinkert er und wirft sich eine Handvoll Schokokügelchen in den Mund. "Eigentlich fand er DICH in dem roten Oberteil so attraktiv, um genau zu sein", verbessert Kyung ihn grinsend, "und ich wüsste tatsächlich nicht, dass er mir jemals ein Indianerehrenwort dazu abgenommen hätte."

"Wie dem auch sei. Ich hatte das Thema mit deinem Onkel schon vor Jahren. Vertrauen ist nicht nur Ehrlichkeit. Er glaubt, nein, er weiß, dass ich nichts tue, was dich in Gefahr bringt. Aber in einem Streit vor... uhm... sechs Jahren, sieben vielleicht... haben wir uns irgendwann darauf geeinigt, dass ich ihm nicht alles sagen muss. Auch er hat einsehen müssen, dass es in manchen Fällen besser ist, Dinge ruhen zu lassen statt durch die Wahrheit einen Krieg zu provozieren." Mark lacht leise, als er an den Abend zurückdenkt, an dem er mit Donghyuck am Küchentisch gesessen hat wie früher bei einem Meeting im Konferenzraum.

"Wow, ich glaube, darüber muss ich nochmal nachdenken."

Kyung schluckt schwer. "Mach das, aber erstmal denkst du nach, was ich dir damals gesagt hab, als wir bei Jaehyun angefahren sind." Mark tätschelt die Schulter des braunhaarigen Jungen, der eindeutig die Stupsnase seiner Mutter hat und die Angewohnheit, die Lippen aufeinanderzupressen von seinem Onkel. Keine Ahnung, ob Gaeul das auch macht. "Keinen Schimmer, echt nicht, sorry." Kyung lächelt entschuldigend.

"Ich sollte dir erklären, wie genau ich anfahre. Falls du das auch irgendwann können musst", hilft der Ältere ihm auf die Sprünge. Tatsächlich hat Dr. Sana Minatozaki ihm nie ausdrücklich untersagt, Auto zu fahren, es aber nach der Operation vor gut zwölf Jahren für unwahrscheinlich prognostiziert. Und K (und Donghyuck) haben nie darüber gesprochen. Bis jetzt. "Öhm. Alter, das ist mehr als zehn Jahre her!"

"Als säße unterm Pedal ein weißes Löwenkopfkaninchen. Deine Lieblingstiere damals."

"Ja, als kleiner Junge. Aber der bin ich nicht mehr und mal ehrlich, Kaninchen sind so langweilig!"

"Ja, bist du nicht mehr. Ich weiß, ich weiß." Mark schaut aus dem Seitenfenster in die untergehende Sonne und versinkt in nostalgischen Flashbacks, die einen dunkelgrauen Beigeschmack bekommen, als er sich bewusst macht, dass K nie wieder sechs sein wird und auf seinem Schoß sitzen wird.

"Weißt du was, Mark. Fahren wir nach Hause, war eine blöde Idee. Gibt ja Taxis und Kayla macht gerade selbst ihren Führerschein..." Kyung greift nach seinem Sicherheitsgurt und will ihn lösen. Mark blockiert einfach seinen Sitzgurt, da er mit Kauen beschäftigt ist. "Ich weiß, bei dir ist es vielleicht schwieriger, K, aber ich kann es gut verstehen, dass du deine Kayla auch mal abholen willst und selbst zu deinen Jungs fahren willst - Leo wohnt ja keine zehn Minuten Fußmarsch weg. Du willst unabhängig sein, wer will das nicht? Und du weißt, dass du mich immer anrufen kannst. Ich fahre, wann immer es geht. Das weißt du. Aber gib nicht sofort auf,  K, atme tief durch und probier es nochmal, okay?"

Lange sagt der Heranwachsende nichts, schaut auf den Sonnenuntergang hinter Mark, hüstelt dann, legt seine Finger um das alte Lenkrad, sinkt bequemer in den Sitz und lächelt ganz schwach. Ebenso kaum merklich sagt er: "In Ordnung. Ein Kaninchen, wie war das?"

"Löwenkopfkaninchen", wispert Mark, "aber Polarfüchse und Greifvögel muss man bestimmt auch vorsichtig aufwecken."

Der Motor heult auf.

KYUNG [SANA]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt