DREIZEHN

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Jeden Advent werden mindestens drei Sorten Plätzchen gebacken. Als diese Tradition begonnen hat, mit Mark, war Kyungie sieben Jahre und anfangs waren es Standard-Butterplätzchen und Spitzbuben, später Nougatrollen, dieses Jahr hat sich Kyung ein Lebkuchenhaus vorgenommen. Jedes Jahr wird der Junge selbstständiger, sucht Rezepte heraus und schreibt Zutaten in Großbuchstaben auf Donghyucks Einkaufszettel, jedes Jahr wird er ambitionierter und Mark erzählt, wie überflüssig er teilweise ist inzwischen, und bestimmt würde man die Entwicklung des kleinen Kyung anhand der Plätzchen großartig festmachen können, aber Donghyuck kriegt eben alles aus dem Leben seines Neffen mit und so sieht er den Wald vor lauter Bäumen nicht, um es bildlich auszudrücken.

Aber er bemerkt kleine, ja die winzigste Veränderung, die ihm aus mehreren Gründen fast das Herz bricht, Jahr für Jahr etwas anderes, und irgendwie will er gar nicht in die Küche gehen, aus Angst diesen Advent wirklich in Tränen auszubrechen. Die ersten Jahren waren nahezu harmlos für den jungen Onkel, Kyunige ist immer auf dem kleinen, blauen Plastikhocker gestanden (den Jeno ihm einmal zum Geburtstag geschenkt hat, der olle Spaßvogel) und hat Teig geknetet, gerührt oder ausgerollt, Mark hinter ihm, da Hand auf dem Rücken des Jungen, der ohne den Hocker schlicht zu klein war für die Arbeitsplatte. Als Kyung zehn oder elf war, stand Mark plötzlich nur noch lässig neben ihm. Donghyuck hat im Türrahmen eine halbe Minute lang zwischen einem Herzinfarkt und einem Tränenausbruch geschwankt, bis Mark ihn bemerkt und mit einem warmen Lächeln in Kyungs Rücken begrüßt hat, welches jegliche negative Emotion auf Null gesetzt hat und es einfach nur warm in Donghyucks Brust geworden ist.

Seit dem ist nichts passiert, obwohl Donghyuck sich jeden Dezember für neue Überraschungen wappnet. Relativ sorglos trampelt er also in die Küche, sagt "Hallo!" und klappt den Mund auf, als er den blauen Hocker verwahrlost neben der Tür entdeckt. Kyung steht da mit dem Nudelholz und guckt kurz über die Schulter, um konzentriert "Hi, Onkel Hyuck!" zu murmeln. "Hey." Mark grinst ihn an, als wisse er genau, was für ein Chaos gerade in dem Jüngeren abgeht. Er gibt ihm einen Kuss auf die Wange. "Wie geht es Renjun?"

Tja, da ist Donghyuck gerade gewesen und fast bereut er es, glaubt kurz, er hätte den Hockerschock verhindern können, indem er zuhause geblieben wäre. Renjun, Jeno und er sind immer noch unzertrennlich, das wird sich auch nicht so schnell ändern, aber seit ein, zwei Jahren wohnt Jeno mit seiner - aktuell schwangeren - Freundin zusammen, und Renjun ist mit Ella in ihrer alten WG geblieben und hat Jenos altes Zimmer in ein Atelier umgewandelt. Mit ausklappbarem Sofa, denn Kyung übernachtet liebend gerne bei ihm, besonders weil er - Mark ist fest davon überzeugt - immer noch der originalen Ella, seinem Kuscheltier damals, hinterher trauert.

"Ganz gut. Wusstest du, dass er mit Jaehyun befreundet ist?"

"Ja, die kennen sich seit Jahren." Mark lacht leise und fährt dem Anderen liebevoll durchs Haar. Donghyuck schiebt die Unterlippe vor - er weiß genau, was das für eine Wirkung auf den Älteren hat. "Wieso hast du mir nie was gesagt?"

"Was hätte es denn geändert?"

"Alles!"

"So so, alles." Mark legt seine teigfreie Hand in seinen Nacken und zieht ihn zu sich. "Ich bin aber ganz zufrieden so, wie es gekommen ist."


-


Kyungie ist lautstark protestierend ins Bett gegangen (Mark hat ihn getragen, das sah so süß aus) und Donghyuck liegt bewegungslos auf dem Sofa und schaut abwesend eine Handballzusammenfassung. Als Mark lautlos ins Wohnzimmer tapst und neben ihm niedersinkt, schreckt er aus einer Art Halbschlaf auf. Mark lacht leise und streicht dem Jüngeren über den Kopf. "Wo warst du?" Donghyuck verzieht die Lippen zu einem Schmollmund, ehe er die Wange gegen Marks Schulterknochen drückt und tief einatmet. "Habe K vorgelesen. Er ist ja schon groß aber er wollte mitlesen und nochmal erleben, was ich früher jeden Abend gemacht hab", erläutert Mark und küsst Donghyucks Kopf.

Dann, als der Dunkelhaarige schon wieder schläft: "Du, Donghyuckie?"

"Hm?"

"Ich hab beim Aufräumen den Stammbaum gefunden, den der Kleine in der ersten Klasse gemacht hat. Der rote Strich zwischen uns, seit wann ist der da?" Mark formuliert die Frage vorsichtig und er ist leise, was Donghyuck mit geschlossenen Augen schüchtern lächeln lässt. Zu gut erinnern sie sich beide an das Theater, ob Mark da überhaupt einen Platz bekommen sollte, und dann auch noch neben seinem Onkel, wie Kyung es sich gewünscht hat. "Hmm", macht Donghyuck, "das müsste in der dritten gewesen sein. Sie sollten ihre Stammbäume nacharbeiten und aktualisieren. Kyungie hat gefragt, ob so ein Strich zwischen dich und mich kann wie seinen Eltern. Hab ja gesagt. Ist ja nur ein Strich."

Er sagt ihm nicht, dass diese gleichgültige Antwort ihn innerlich alles gekostet hat, was er hatte. "Witzige Sache, ein paar Tage später hast du ihm erklärt, dass der Mensch im geheimen eigene semantische Strukturen aufbaut, also dass er Objekten einen Wert gibt, den niemand außer ihm kennt. Neben all den unausgesprochenen Bedeutungen, die in unserer Kultur dominieren. Warum du so traurig warst, als du den Autoanhänger, den Kyung gebastelt und deinen Namen drauf geschrieben hat, verloren hast. Warum Kyungie drei Tage nicht mit mir geredet hat, als ich Ella weggegeben habe. Weil Gaeul sie gekauft hat und weil sie immer da war, seit er zwei ist. Warum ich sauer war, als er mit seiner Actionfigur das Bild von mir und Gaeul vom Couchtisch geschlagen hat. Weil wir es digital haben, aber es würde immer nur das Gleiche sein, nie mehr dasselbe."

Donghyuck lächelt. "Du hast ihm das so perfekt erklärt, und als er mich dann nachdenklich angesehen hat, Mark, da hat er es, glaube ich, verstanden. Und ich auch." Er schaut hoch und streichelt beide Wangen des Anderen. Mark grinst und küsst seine Nasenspitze. 

"Nur ein Strich, hmm?"

KYUNG [SANA]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt