LOVE YOURSELF

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September

"Hmm..." Mark spitzt die Lippen und durchforstet mit seinen Augen den Raum. In den letzten Tagen und Wochen ist er öfter als es in Donghyucks Vorstellungen bei einem Boss, Arbeitskollegen oder gar Freund üblich wäre hier gewesen und sein Neffe hat einen Narren an ihm gefressen - und umgekehrt. "Hmm", wiederholt Mark noch einmal mit Denkermiene seinen Status, sucht nach etwas, womit er sich verabschieden kann. Denn einfach so gehen - das verkraftet Kyung ganz schlecht.

Sie hocken alle ein Kreis auf dem Teppich im Wohnzimmer, Kyung im Schlafanzug (es ist ja schon fast neun), die Karten der Schokohexe vor sich (Donghyuck hat wieder einmal haushoch verloren), Donghyuck in gemütlichen, aber nicht ganz ranzigen Klamotten. "Na, K, hat dir Onkel Hyuck auf der Gitarre vorgeklimpert?" Der Name K ist wohl während ihrer gemeinsamen Autofahrt entstand, als sein Onkel bei der Fortbildung war, und der hinterfragt es nicht wirklich, auch wenn er es unheimlich gerne hat, wenn Mark seine kanadischen Wurzeln auspackt und den Kleinen mit dem englisch ausgesprochenen Buchstaben anredet. "Neein, kann ich nicht", wehrt der Dunkelhaarige jetzt ab und verflucht Jihyeon dafür, die Gitarre hier liegen gelassen zu haben.

"Naja, Tante Jihyeon hat gespielt und Onkel Hyuck hat gesungen!", plappert Kyungie aufgeregt. Donghyuck presst die Lippen zusammen, während Mark ihn nachdenklich und verschmitzt zugleich mustert. "Ich hab dir gesagt, Kyung, das war einmalig!", sagt er, Mark steht ungerührt auf und schleppt die alte weiße Akustikgitarre von Jihyeon, die seit Wochen an der Wand lehnt, her. "Du kannst einstimmen, wenn du willst, Donghyuckie. Wenn nicht, auch in Ordnung." Während Donghyuck noch damit beschäftigt ist, Atmung, Körpertemperatur und Herzschlag von Marks sanfter Aufforderung und diesem Kosenamen zu normalisieren, klatscht Kyungie begeistert in die Hände.

lewis capaldi, someone you loved

justin bieber, love yourself

bruno mars, billionaire 

"Er muss!", schreit er. Mark schenkt dem Jüngeren ein warmes Lächeln und spielt los. Das erste Lied singt er komplett alleine, aus drei Gründen: erstens, Donghyuck kennt das Lied gar nicht. Zweitens, er ist mit Staunen beschäftigt, denn Marks Stimme ist so weich, so angenehm im Ohr. Und drittens, er hat Angst, mit seinem bloßen Summen die Melodie zu zerstören, die der Blonde mit seiner Stimme und wenigen Gitarrensounds erschafft.

Er singt insgesamt nur drei Lieder, aber schon im zweiten reicht ein intensiver Augenaufschlag von Seiten Marks, dass Donghyuck einsteigt, erst mit leise, zögerlicher Stimme, später leichter, freudiger, selbstbewusster.

Mark endet halb gefühlvoll, dann legt er die Gitarre zur Seite und schlägt sich auf die Oberschenkel. "Tada. Das wars für heute", sagt er fröhlich. "Kommst du morgen wieder?", will der Junge eifrig wissen und Mark sieht ähnlich verunsichert aus wie Donghyuck. Das perplexe Schweigen des Anderen rettet Donghyuck mit den vielsagenden Worten: "Wir schauen mal, ja? Sag gute Nacht und geh schonmal Zähne putzen, okay, Kyungie?"

Mark lächelt erleichtert. "Schlaf gut, K. Wir sehen uns bestimmt bald wieder." Er zwinkert und winkt. "Ich bringe ihn zum Auto, ja? Bin gleich zurück." Donghyuck steht auf und registriert das Nicken seines Neffen zufrieden. Mark tut es ihm gleich.

"Ich will mich nicht...", sagt Mark.

"Morgen ist...", sagt Donghyuck zeitgleich.

"Du zuerst", sagt Mark verlegen. Donghyuck schaut ihn dankbar an. "Kyung mag dich ziemlich", beginnt er, "und er will dich morgen dabei haben. Es ist sein sechster Geburtstag."

"Oh."

"Nimm es mir nicht übel, Mark, aber kennt dich wenige Wochen. Morgen kommt die ganze Familie und Kyungie ist mir wichtiger als alles andere. Ich will nicht, dass du nur ein winziges Kapitel in seinem Leben bist." Donghyuck schaut angestrengt auf den Parkplatz, versucht die Farbe von Marks Fox in der Dunkelheit auszumachen. Mark stupst gegen seine Schulter. "Dasselbe wollte ich auch sagen. Es ist deine Familie. Ich will mich nicht da reindrängen."

"Aber wo wir davon sprechen: du schuldest mir noch eine Erklärung, warum wohnt K bei dir? Letztes Mal hast du mich auf später vertröstet und bist dann eingeschlafen. Mit Kopfschmerzen, wie mir die Tablettenpackung in der Küche verraten hat. Ich musste alleine Schokohexe spielen!" Mark ringt theatralisch die Hände. "Erklärst du mir das alles? In Slowmotion?" Wieder ein englisches Wort. Donghyuck bekommt eine Gänsehaut, aber das ist bestimmt der kühle Wind in dieser Nacht.

Donghyuck legt den Kopf schief. "Also Kyungie", fängt er an, "ist der Sohn von meinem Bruder."

"Der in Japan?"

"Der in Japan."

"Warum?" Mark starrt mit ahnungslosem Gesichtsausdruck in die Leere. Donghyuck atmet aus. "Gaeul hat Kyungies Mutter, Nayoko, in seinem Auslandssemester kennengelernt. Sie war eine Probandin."

"Probandin? Hat er nicht Augenmedizin studiert?"

"Doch. Yoko hat seit Jahren eine seltene unheilbare Augenkrankheit."

"Oh."

"Wollen wir ein Stück gehen? Ist eine längere Geschichte."

"K wartet. Was machst du übermorgen?"

"Am Samstag? Einkaufen. Jihyeons Auto ist in der Werkstatt, also werde ich ihren Mann fragen müssen. Oder Jenos Bruder." Donghyuck beißt die Zähne zusammen und lächelt gestresst. Wie er es hasst, andere um Hilfe zu bitten. Aber Mark streckt entspannt den Rücken durch.

"Ich mach das. Und jetzt geh rein, du frierst."


KYUNG [SANA]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt