Die ganze Wahrheit

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Tim schaute mich verwirrt an. „Was ist mit deinem Bruder und was hat er mit diesen Typen zu tun, warum will er dich holen? Ich verstehe das nicht. Naomie du musst mit mir reden!", drängte er bestimmend. Ich hatte seit Jahren solche Angst vor der Wahrheit. Eigentlich hatte ich mit diesem Abschnitt meines Lebens abgeschlossen, weil ich dachte sie würden mich nicht finden und ich in Sicherheit wäre dank Meghan. Dass es soweit kommt, hätte ich nicht gedacht. Aber nun saß ich hier im Krankenhaus mit Verletzungen und schwebte wegen der Drohung in Lebensgefahr. Wie sollte ich das alles erklären? Ich schloss meine Augen und atmete ein paar Mal tief ein und aus.

Dann legte ich los: „Ich hatte dir doch von meinem Vater und meinen Brüdern erzählt und was sie mir angetan haben. Das war aber nicht die ganze Wahrheit... Als mein Vater anfing Drogen zu nehmen, rutschte er in das kolumbianische Drogenkartell mit rein. Wir lebten damals in Miami. Da er Geld für seine Drogen brauchte fing er an Sachen für sie zu erledigen... zu dealen, zu töten, zu stehlen. Das war aber nicht alles was er tat. Dieses Kartell war auch auf Frauenhandel spezialisiert. Ich hatte dir ja erzählt, dass er meine Mutter benutzte falls er kein Geld mehr hatte..." Ein dicker Kloß bildete sich in meinem Hals und die Tränen schossen mir wieder in die Augen.

„Er... er hat sie sozusagen ab und zu an sie verkauft. Und... als meine Mum das nicht mehr aushielt, wollte sie mit mir abhauen. Sie hatte schon alles vorbereitet und weckte mich dann in der Nacht damit wir leise gehen konnten. Doch als wir dann gerade zur Tür rauswollten kam mein Vater rein. Er war wie immer high. Als er die Koffer sah flippte er aus und... hat auf sie geschossen." Ich machte eine kurze Pause, weil die Erinnerung daran viel zu schmerzhaft war. Tim konnte ich im Moment nicht anschauen, das war zu schwer für mich. Er saß nur da und hörte zu.

„Sie verblutete binnen von Minuten und starb vor meinen Augen. Mein Vater wurde damals nicht verhaftet, da er die Angelegenheit irgendwie anders aus der Welt geschafft hatte. Mein Bruder Miguel war 18, meine anderer Bruder Santiago 15 und ich war 12. Dann ging es mit mir weiter. Miguel verehrte meinen Vater und schlug den gleichen Weg ein wie er. Sie schleppten mich auf Party's und so weiter, das weißt du ja. Dabei ging es immer um Geld oder Drogen. Als ich 16 war, wurde mein Vater verhaftet. Er hatte sich mit der Gegenseite, also dem mexikanischen Kartell angelegt. Er sollte einen Deal mit ihnen abschließen, aber er behielt das Geld und so kam es zu einer Auseinandersetzung bei der er einen von ihnen erschoss." Ich schnaufte und holte nochmal tief Luft bevor ich weiter erzählte.

„Dann war ich sozusagen in der Obhut meines Bruders Miguel. Da mein Vater nun auf Kriegsfuß mit den Mexikanern war, versuchte mein Bruder die Sache auszubaden. Die Mexikaner wollten natürlich Rache und stürzten sich auf das kolumbianische Kartell. Um die Sache zu regeln, war mein Bruder einen Deal eingegangen. Für die Waffenruhe musste er etwas opfern... mich.", endlich traute ich mich Tim anzusehen. Aber was ich sah, versetzte mir einen Stich in mein Herz. Er weinte zwar nicht, aber diesen Ausdruck in seinem Gesicht werde ich nie vergessen. Voller Schmerz hörte er mir ohne weitere Worte zu.

„Eines Abends schleppten meine Brüder mich wieder mit. Es sollte um den Austausch gehen. Sie... sie wollten mich dem mexikanischen Kartell ausliefern. Ich... ich hatte Todesangst. Dauernd überlegte ich wie ich entkommen könnte, aber mir fiel nichts ein. Mein Leben wäre zu Ende gewesen, sobald sie mich hätten. Als wir dann an dem abgemachten Ort ankamen, warteten die ekligen Typen schon auf uns. Sie waren zu zweit. Meine Brüder zerrten mich zu ihnen und ich werde nie diese gierigen Blicke der Mexikaner vergessen. Ich konnte in dem Moment an nichts anderes denken, als abzuhauen. Es ging mit mir durch und ich schnappte mir irgendwie die Waffe von Santiago und... und schoss..."

Es kam alles hoch. Die verdrängten Erinnerungen verbreiteten sich in meinen Kopf wie ein Lauffeuer. Der damalige Moment spielte sich vor meinem inneren Auge ab: all die Angst die ich hatte und das quälende Gefühl der Hilflosigkeit. Ich warf mich in die Arme von Tim und weinte aus tiefster Seele: „Ich habe ihn erschossen, ich habe jemanden getötet Tim. Ich... ich bin eine verfickte Mörderin wie mein Dad. Es tut mir so Leid Tim, es tut mir Leid. Das alles tut mir so Leid."

My PolicemanWo Geschichten leben. Entdecke jetzt