63. London - mein alter Schatten

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Lila

Aus 7 Tagen wurden 10, aus 10 wurden 14, aus 14 wurden 21. Es sind 3 Wochen vergangen, nachdem ich Harrys Haus verließ und bei meinen Eltern untergetauchte. 3 Wochen in denen ich jeden Anruf und jede Nachricht von Harrys ignorierte. Sogar Mama wimmelte ihn täglich von der Tür ab. Jedes Mal stand ich oben im Flur, hörte seine Stimme, hörte wie verletzt und enttäuscht er war. Ich sah ihm aus meinem Fenster zu, wie er in sein Auto stieg, seine Hände vors Gesicht hielt und scheinbar bitterlich weinte. Jeden Tag.

Es zerriss mich, zu sehen wie sehr Harry ebenfalls unter der aktuellen Situation litt. Dennoch war ich wie gelähmt und mein Körper wehrte sich strikt dagegen, auf ihn zuzugehen oder mit ihm zu reden und gar wieder zu ihm zurückzugehen. Ich konnte es nicht. Irgendetwas in mir stellte sich so quer und sagte mir, dass Abstand das Beste für uns war. Uns. Gab es das noch? Waren wir eigentlich überhaupt noch ein Paar? Auch das waren Fragen, die mir täglich durch den Kopf gingen. Und nie konnte ich sie beantworten.

Das Klopfen an meiner Tür ließ mich Aufsehen. "Ja?" frage ich leise nach und sah zu, wie der Türgriff langsam heruntergedrückt und kurz darauf die Tür von meiner Mama aufgeschoben wurde. "Hey mein Schatz, ich habe ein paar Pfannkuchen gemacht, magst du runterkommen und mit mir und deinem Vater etwas essen?" Wie immer stand sie im Türrahmen, ist die liebevolle, ruhige Mutter, die ihrer Familie etwas Leckeres zu Essen zubereitet, ihre Tochter darum bittet an diesem Essen teilzunehmen, doch statt ihr diesen Wunsch zu erfüllen und ihr die Frage mit einem selbstverständlichen 'na klar, ich komme sofort' zu beantworten, schüttele ich meinen Kopf und stellte ihr eine Gegenfrage. "Ist er heute dagewesen?"

Ich höre Mamas besorgtes Seufzen und sehe, wie sie nun doch ins Zimmer hineinkommt und die Tür hinter sich schließt. Mit leisen Schritten kommt sie auf mich zu und setzt sich neben mir aufs Bett. "Liliana, du musst etwas essen... du hast weder gestern noch vorgestern etwas gegessen. Ich mache mir langsam große Sorgen..." "Wieso machen sich ständig alle Sorgen um mich? Sonst ist es auch immer allen egal was ich mache, was ich esse, was ich trinke oder wo ich schlafe. Wieso ist jetzt alles anders? Wieso will jeder ständig irgendwas von mir?" Ich weiß, dass aus mir die reinste Verzweiflung spricht. Ich weiß, dass ich keine klaren Gedanken mehr zusammen bekomme, seitdem ich weiß, dass ich operiert werden musste. "Und jetzt beantworte mir endlich meine Frage, war er heute hier?"

Erneut seufzte meine Mama auf, diesmal aber nicht besorgt, sondern irgendwie sauer und deutlich genervt. "Nein Liliana, er war nicht da und ganz ehrlich? Ich hoffe er taucht hier auch nicht mehr auf. Scheinbar hat er aus meiner Tochter einen völlig anderen Menschen gemacht. Einen Menschen, den ich nicht mehr wiedererkenne!" Mit den Worten stand sie auf und verlies mein Zimmer mit dem zuknallen meiner Tür. Ich zuckte kurz zusammen und starrte die weiße Holztür an, in dem sie eben verschwunden war...

"FUCK!" schrie ich auf und warf ihr mein Kissen hinterher, obwohl sie schon längst wieder verschwunden war. Tränen rannten über mein Gesicht und ich begann bitterlich an zu weinen. Schützend hielt ich mir die Hände vors Gesicht, schämte mich vor mir selbst. Was ist nur aus mir geworden? Ich war ein Wrack, an dem selbst meine eigene Mutter sich daran die Finger verbrannte. Ich wusste, dass sich dringend etwas ändern musste, aber ich war wie gelähmt. Als ob sich etwas in mir strikt dagegen währen würde, etwas an meinem Verhalten oder meinen jetzigen Lebensstil zu verändern.

Oft kamen mir die Gedanken Tina anzurufen, ihre eine Nachricht zu schreiben, wie es ihr geht. Aber dann kamen diese Erinnerungen in meinem Kopf, dass sie Schwanger ist und ein Baby von Pauli erwartet. Das sie meinen Traum lebt. Den Traum, der sich für mich niemals erfüllen wird.

Somit war die Überlegung meine "eigentlich" beste Freundin anzurufen schnell wieder über Bord geworfen. Ich wollte nicht wissen, wie großartig es war, schwanger zu sein... ich wollte nicht von ihr hören, dass sie bald ihr kleines Wunder in den Armen halten konnte. Nein, ich wollte es nicht und konnte es nicht. Vielleicht wollte Tina mich auch gar nicht sprechen, schließlich hatte sie sich auch nicht mehr bei mir gemeldet.

Late Night Talking (H.S.)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt