67. 'Du siehst gut aus, Liliana!'

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Lila

Wieder und wieder las ich Harrys handgeschriebenen Worte durch. Heiße Tränen flossen über meine Wange, als ich seinen Brief in meinen Händen hielt. So sehr ich ihn hasste, als ich schnallte, was hier passierte, als er da stand als man mich abholte und er meinen Namen schrie. Er war es, der dafür verantwortlich war, dass ich hier war. Ich brauchte Monate, um zu verstehen, dass er und auch Markus nur das Beste für mich wollten. Auch meinen Eltern war ich nicht mehr böse.

Ich brauchte die Zeit, um zu verstehen was mit mir los war. Auch wenn es hart war, ohne Handy oder jeglichen anderen Kontaktmöglichkeiten zu leben. Der Drang Harry anzurufen, Tina zu schreiben oder die Stimme meiner Eltern zu hören wuchs täglich an. Doch schnell verstand ich, dass nur die vollständige Isolation von allem mir helfen würde. Und das tat es. Seit wenigen Wochen durfte ich nun 1-mal die Woche Jemanden von meinen Notkontakten anrufen. Markus, Mama oder Harry. Das war die Wahl, die ich jeden Mittwoch hatte und bisher fiel meine Entscheidung immer auf Mama.

Bei unserem ersten Telefonat schwiegen wir mehr als wir miteinander redeten. Nach dem 2. Mal wurde es schon besser und seit letzter Woche führten wir normale Gespräche zwischen Mutter und Tochter. Wir redeten nicht darüber was passiert war, warum ich hier war oder wie es Harry ging. Es waren eher so unwichtige Themen, die wir ansprachen.

Zum Beispiel, was gibt es die Woche zu essen, oder ob Mama mal wieder neue Blumen für den Garten gekauft hat. Sie hatte mir erzählt, dass sie gerade dabei waren das Wohnzimmer zu renovieren. Neue Tapete, neue Couch, neuer Fernseher. "Liliana, du glaubst es nicht. Ich konnte deinen Vater sogar davon überzeugen die Wand am Fernseher und an der Couch in grün zu streichen. Also Dunkelgrün, kein Grasgrün. Du wirst Augen machen, es sieht wirklich großartig aus. Sogar Papa ist begeistert!"

Heute war wieder Mittwoch und eigentlich konnte ich, wenn ich wollte, ins Schwesternzimmer gehen und darum bitten mein wöchentliches Telefongespräch zu führen. Doch der Brief von Harry, den ich heute morgen beim Frühstück mit dabei gelegt bekam, brachte mich völlig aus der Bahn. Erwartete er eine Antwort von mir? Sollte ich ihn anrufen? Oder ihm schreiben?

Nervosität machte sich in mir breit und ich spürte, wie mein Herzschlag sich beschleunigte. 'Kills me to think that I let you down' schossen mir seine Worte durch den Kopf. Er gab sich die Schuld an dem allen was passiert war. Vermutlich hatte ich ihm auch genau das Gefühl gegeben in unseren letzten gemeinsamen Wochen. Ich fragte mich, was er mir mit diesen Textzeilen bezwecken wollte. Was wollte er mir mitteilen? Waren es einfach nur seine Gedanken? War es ein Song? Hatte er ein Song darübergeschrieben? Hatte er ihn vielleicht sogar schon veröffentlicht? Ich hatte keine Ahnung was da draußen vor sich ging. So ohne Fernseher oder den Social Media bekam man nichts mehr um sich herum mit.

Ich brauchte Antworten auf all diese Fragen. Vielleicht sollte ich heute also Harry anrufen statt meiner Mum. Doch ich wurde in meinen Gedanken unterbrochen als meine Zimmertür aufging und ein Arzt vor mir stand. "Miss Bloom-Berger. Wie fühlen Sie sich heute?" wollte er wissen und stand mit Kittel und einer Kladde mit meinen Unterlagen vor mir. Nickend wich ich seinem Blick aus und legte Harrys Brief feinsäuberlich gefaltet auf meinen Nachtisch. "Gut, etwas müde" gab ich eine knappe Antwort. "Sehr schön. Wir machen heute einen kleinen Gesundheitscheck und wollen schauen, ob wir vielleicht anfangen können die ersten Medikamente wieder absetzen zu können." fing er an und ließ mich nun doch aufsehen. Medikamente absetzen? Ich hatte inzwischen den Überblick verloren, was ich täglich alles zu mir nahm. Ein Pillencocktail am Morgen und einen am Abend.

"Meine Kollegin, Schwester Mary, wird gleich zu Ihnen kommen und Ihnen Blut abnehmen. Gegen 11 Uhr holen wir Sie dann für einen Ultraschall und einen anschließenden MRT-Termin ab." fuhr er fort. Mein Blick ging auf die Uhr. 10:30 Uhr. Seufzend sah ich den Arzt an "Also kann ich vorher nicht mehr telefonieren?" wollte ich wissen. "Nein, das wird vorher leider nicht mehr möglich sein. Gerne können Sie dies aber auch nach Ihren Untersuchungen machen. Ich gebe im Schwesternzimmer bescheid!" und schon war er wieder verschwunden.

Late Night Talking (H.S.)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt