Kapitel 31

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Juliette Kerz

Juliette war nach Nenans raschem Aufbruch natürlich sofort zu Justin geeilt. Sie hatte ihm erzählt, was passiert war. Aber irgendwie schien er es sogar zu verstehen. Er schien zu verstehen, warum Nenan sie alleine gelassen hatte! Wenn wenigstens Lars noch da gewesen wäre, dann - vielleicht dann - wäre es ihr egal gewesen, dass sich ihr Mitheerführer aus dem Staub gemacht hatte, mit ihm im Schlepptau zwei ihrer - ihrer! - Leute und die beiden Freaks Berain und Durand. Dass er sich so etwas erlaubte! Und Justin schien das auch noch zu verstehen, ja sogar zu unterstützen! Sie waren nicht umhingekommen, eine wilde Diskussion zu führen.

"Ich kann und werde es nicht verstehen!", rief sie gerade empört. "Weißt du überhaupt, was das heißt?" "Natürlich weiß ich es, Juliette! Aber es ist in Ordnung-" "In Ordnung? Wir sind alleine, Justin, versteh das doch! Wir sind alleine und da draußen sind hundertdreißig Leute, die uns brauchen! Das sind fünfundsechzig Personen pro Kopf!" "Juliette..." Justin kam langsam auf sie zu und sah ihr in die Augen. "Du musst dich beruhigen. Wir schaffen das." "Wir schaffen das nicht! Denn wenn du wüsstest, was das heißt, dann würdest du es einsehen können, wie dumm Nenan war! Wie dumm er ist! Wenn du wüsstest, was das für uns heißt..." Juliette seufzte, dann verflog ihre Wut langsam. Justin war zu ihr getreten. Er versuchte, sie aufmunternd anzulächeln. "Julie. Wir schaffen das. Ich bin bei dir. Ich werde immer bei dir bleiben, okay? Ich bin da, und wenn wir gemeinsam nach Horgoron in seinen Turm laufen müssen. Auch dann werde ich bei dir bleiben. Wir passen auf uns auf, schon vergessen?" Juliette nickte und starrte auf ihre Füße, als wäre es tödlich Justin in seine Augen zu sehen, die einen halben Meter neben ihren waren. "Und nebenbei", fügte Justin hinzu. "Ich finde es toll, dass es ein 'uns' gibt". Juliette schnaubte, dann blickte sie in an. Justin zwinkerte ihr zu, und Juliette rollte mit den Augen, aber lächelte sanft.

"Danke", flüsterte sie. Justin lächelte ehrlich und legte seine Hand an ihre Schulter. "Immer wieder gerne." "So oft willst du sicher nicht Horgoron besuchen", scherzte Juliette. Justin lachte. "Wenn es dir dort gefällt, dann können wir so oft hin, wie du willst. Mit Horgoron selbst musst du aber reden. Dazu fehlen mir die Kompetenzen." "Naja, viele hast du ja nicht", meinte sie kichernd. "Hey!" Empört gab er Juliette einen Schubser. Sie stolperte, ein paar Schritte nach hinten. Natürlich ließ sie sich das nicht gefallen und stieß ihn eilig zurück. Justin wurde von der vollen Wucht ihres spielerischen Angriffs zurück gerempelt. Fast knallte er gegen die Zeltwand. "Wie frech!", rief er. Er wollte gerade seinen Rachefeldzug beginnen, als Juliette ihn abermals nach hinten schubste. Ihre orangen Locken wippten auf und ab. Der Heerführer konnte sich gerade noch an einem der hölzernen Zeltpfosten abstützen, ansonsten wäre er in die schmutzige, gelbe Zeltwand gekracht - was Juliette wahrscheinlich gerne gesehen hätte. Wahrscheinlich hätte sie ihm das Tage nachgetragen.

Juliette lachte, doch ehe sie weiteres dummes Zeug angestellt hätte, fing Justin ihr Handgelenk ab und versuchte, sie selbst in den gelben Stoff zu stoßen. Doch sie fing sich rechtzeitig, aber schaffte es nicht, seine Hand loszuwerden. Die Blicke der beiden Heerführer begegneten sich, dann fingen sie an zu lachen. Es war ein kleiner Lichtblick in den Tagen des Regens und der Furcht. Die beiden sahen sich an und Juliette hatte das Gefühl, als wäre in ihr etwas bewegt worden, von dem sie nie gewusst hatte, dass es existierte. Als sie Justins Blick erneut begegnete, war ihr beider Lachen schon verklungen.

"Julie", murmelte Justin. Seine Stimme war leiser als sonst. Sie sah auf. "Hm?" "Mach dir keine Sorgen über die Zukunft. Ehe wir es uns versehen, ist sie ohnehin schon eingetroffen. Ehe wir es realisieren, ist sie ohnehin schon beschlossen." Juliette lächelte schief. "Weise Worte für einen wie dich." Er erwiderte das Lächeln, doch sie sah, dass er es ernst gemeint hatte. Die gut zehn Zentimeter, die trennten, fühlten sich auf einmal falsch an. Juliette wich zurück, doch das spürte sie Justins Hand an ihrem Gesicht. Sie wandte sich wieder zu ihm. Seine Augen glitzerten merkwürdig. "Bist du betrunken?", fragte sie etwas säuerlich. Justin blinzelte perplex. "Ich- Was? Nein! Ich bin doch nicht betrunken!" Sie musterte ihn stirnrunzelnd. "Hauch mich an", befahl sie. Er zog die Braunen hoch. "Sicher?" "Ja. Los, hauch mich an. Ich will wissen, ob du lügst, denn wenn du lügts, wird dir was schlimmeres passieren, als nur in einer Zeltwand zu landen!" Justin nickte abwehrend. "Schon gut, schon gut, Frau Heerführerin. Wie Ihr wollt." "Mach keine Faxen!", murmelte sie. Justin setzte einen herausfordernden Gesichtsausdruck auf. Sogar sein spitzes Lächeln schien den Ausdruck zu imitieren. Er hob eine Hand an ihr Kinn. Juliette hob eine Braue. "Du sollst mich anhauchen, nicht mich küssen, Justin", murmelte sie etwas unsicher. "Vielleicht sehe ich keinen Unterschied...", flüsterte der Heerführer. Sie kamen sich näher, Juliette wurde merkwürdig heiß. Eigentlich wollte sie überlegen, ob sie das wollte, ob sie ihm nicht lieber eine Ohrfeige verpassen sollte, aber irgendwie schien ihr Gehirn nicht richtig zu funktionieren. Sie kamen sich noch näher, nein, ihre Lippen kamen sich näher, als würde eine mystische Kraft sie anziehen. Beinahe teilten sie den selben Atem.

Justin hatte seine Augen geschlossen, seine Hand ruhte nun nicht mehr an ihrem Kinn, sondern hatte sich in ihre dicken Locken gewunden, waren dort mit ihnen verschlungen, als wären sie ein Teil von ihnen. Einer seiner Finger hatte sich um eine einzelne Locke gewickelt. Sie fühlte sich, als würde ihr der Atem ausgegangen sein und als hätte nur er die Fähigkeit, ihr Luft zu schenken. Nur ein kleines Stück unbrauchbare Luft trennte sie voneinander. Es kam ihr vor, als würde sie seine Lippen jetzt schon schmecken. Dann - endlich, es schien viel zu viel Zeit dazwischen vergangen zu sein - berührten sich ihre Lippen. Justin schlang auch seinen anderen Arm um sie, während sie sanft ihren ersten Kuss teilten. Juliette schloss die Augen und das alte, vertraute Gefühl überschwappte ihre Sinne - Liebe.

Lothoria: Schwarzes BlutWo Geschichten leben. Entdecke jetzt