Kapitel 42

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Juliette Kerz

Sie ritten schon seit Ewigkeiten.

Zum Glück war das Land eine einfache Landschaft, mit vereinzelten Hügeln und Teichen, die sich vom Regen gebildet hatten. Allerdings schien das Wetter ihnen wohlgesinnt zu sein - sie kamen in keinen Regen, in kein Gewitter. Es standen zwar Wolken am Himmel und Goliardon war sich sicher, dass es bald alles auf sie herab lassen würde, aber Juliette und Justin blieben zuversichtlich. Das Wetter war mit ihnen, und wenn es zumindest das Wetter war, dann war das schon ein Vorteil.

Juliette und Justin waren als erste an der Spitze aufgebrochen, zusammen hatten sie die ersten Kilometer getan. Irgendwann hatte Juliette etwas Ruhe gesucht, sie war weiter hinten zurück geblieben. Nicht, weil sie Justin nicht mehr aushalten konnte, nein, sondern einfach, weil sie Zeit zum Denken brauchte. Denken, über Lars, über Nenan, über Justin. Aber vor allem über ihre Zukunft. Sie brachen auf, mitten ins Nirgendwo, ohne Ziel und Gedanken. Juliette hatte vorgeschlagen, vielleicht in Richtung Niersbach zu gehen, oder Aleria. Niersbach schließlich war auch schon nahe am ende gewesen, als sie belagert worden waren und nur durch den legendären Jan Hell mit seinem Diamantenschwert gerettet worden. Nur er, seine Schwester und der alte Heerführer von Niersbach hatten das Blatt des Krieges gewendet und den bösartigen Horgoron zurück in sein Land vertrieben. Der sogenannte Fluch von Lotoria - der Region, versteht sich - hatte schon viel zu viele Übeltaten verschuldet, aber in Jan Hell hatte er nun eine Bedrohung gefunden, die ihm gewachsen war. Das alles war natürlich schon Jahrzehnte aus, ein halbes Jahrhundert sicher schon. Jan Hell war außerdem - Gerüchten zufolge - von einem Vampir getötet worden. Sein ältester Sohn hatte den Thron von Niersbach bestiegen.

Juliette seufzte, und dachte an Nenan, denn er war ein richtiger Fan von Jan Hell - schließlich hieß sein Pferd Niersbachs Klinge. Sie seufzte noch einmal und gab Raklagon die Sporen. Das dunkle Tier setzte seine Hufe schneller voran, getrieben von Juliettes Bewegungen.

So waren sie mehrere Tage unterwegs, bis sie die Hügelebene überquert hatten. Das vertraute Land verblasste hinter dem Horizont. Sie sah sich noch ein letztes Mal um. Die Ruinen von Mortis waren schon lange nicht mehr in Sichtweite, nur noch die Mauern die das Dorf geschützt hatten. Doch auch das war überrannt worden . Dort hatten noch weniger Leute überlebt, als in der Burg selbst. Juliette seufzte erneut und ihre Gedanken wanderten. Das hier war nicht einfach nur ein Ort, den Juliette da verließ, nein, dies war ihr Zuhause, wo sie geboren, aufgewachsen und gelebt hatte, wo sie geliebt, getrauert und gelacht hatte. Es war ein Ort, ja, aber es war ihre Heimat. Vielleicht hatte sie einfach nur Angst vor dem Unbekanntem. Aber immerhin hatte sie ihre Erinnerungen -zumindest das. Trotzdem beschlich sie die leise Vorahnung, dass sie Mortis - und seien es auch nur die Ruinen - niemals je wieder sehen würde. Sie schluckte das Gefühl und die Nervosität hinunter, die sich in ihr aufgestaut hatte und wandte den Kopf zurück nach vorne, zurück in die Gegenwart und zurück zu ihrer Verantwortung.

"Ihr seht der Vergangenheit nach, Heerführerin?"

Juliette fuhr herum und sah Goliardon, immer noch etwas unsicher auf seinem Pferd sitzend. Sie musterte ihn genau. Sie konnte den kleinen, dunkelhäutigen Mann einfach nicht einschätzen, schon erst recht nicht, weil er sich mit Magie beschäftigte. Vielleicht mochte sie ihn auch einfach nur deshalb nicht.

"Ich sehe nicht in die Vergangenheit", entgegnete sie darum. "Anders als Ihr, Goliardon", fügte sie hinzu, als Anspielung auf seinen Beruf als königlicher Seher. Goliardon lächelte sanft. "Hah, nun ja, das stimmt. Aber was ich meine: Ihr könnt oder wollt Euch nicht von Mortis reißen, hm?" "Mortis ist meine Heimat. Wem fällt es denn nicht schwer, etwas Vertrautes zurück zu lassen?" Der Seher lächelte abermals und Juliettes Miene verdunkelte sich. "Ist das so lustig?", fragte sie. Sie fühlte sich merkwürdig verletzt, aber dass Goliardon irgendetwas in ihr berührte wollte sie auf keinen Fall. Goliardon schüttelte den Kopf. "Verzeiht, Heerführerin. Ich wollte euch nicht beleidigen, und nein, es ist nicht lustig. Ich finde es nur... interessant, wie schwer es manchen fällt, loszulassen. Juliette, Ihr seid zweifellos eine Frau, die meine Tipps nicht braucht, aber vielleicht würde-" "Richtig. Ich brauche Eure Tipps nicht, Goliardon", unterbrach sie ihn säuerlich. "Und nennt mich nicht Juliette. Ich habe Euch nie das Du angeboten." Sie hatte keine Lust, mit dem Mann zu diskutieren, darum gab sie Raklagon die Sporen. Der Hengst trabte los, wieder in Richtung ihres Platzes vorne an der Schlange an Leuten. Sie ließ Goliardon stehen, kam aber nicht weit genug, um seine letzten Worte nicht verstehen zu können. Der Seher wirkte bedrückt, als er ihr nach sagte: "Vielleicht würde es Euch gut tun, los zu lassen."

Juliette konnte das Gefühl nicht los werden, dass der Mann, auf den sie am wenigsten von allen hören wollte, am Ende doch Recht behalten könnte.

Lothoria: Schwarzes BlutWo Geschichten leben. Entdecke jetzt