Kapitel 19

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Anton

"Gebt es mir", sagte der Orgalist mit dem Kopf aus purer Schwärze. Er stand in der Türe, sein Arm war ausgestreckt und sah aus, als hielte er etwas darin. Anton reagierte schnell- er schmiss sich nach vor, schnappte sich das Glas und hielt es so fest, wie er nur konnte. Der Gegenstand war nur ein Hauch größer als ein simples Marmeladenglas. Wie konnte etwas so wichtig sein?

Abermals wiederholte der Orgalist seine Worte. Anton sah zu Nenan, und hörte Fußstapfen am Flur. "Verstärkung!", dachte er überglücklich. Ja, es war Verstärkung. Aber nicht für sie, sondern für den Orgalist. Duzende Orgales, Menschen und andere fragwürdige Spezies stürmten in den Raum. "Scheiße, und was jetzt?", flüsterte Anton Nenan zu. Der Ritter wich vor der Meute zurück, bis er die Wand hinter sich spüren konnte, und den Luftzug eines Fensters. Er riskierte einen Blick hinab. Mindestens sieben Meter.

Nenan plumpste hinter den Feinden auf den Boden. Anton hatte gar nicht gemerkt, dass er überhaupt geschwebt war. nun waren die beiden nicht nur voneinander getrennt, sondern auch noch umzingelt.

"Gib mir das Glas, Junge.", sagte die Stimme ohne Ursprung wieder und plötzlich konnte sich Anton nicht mehr von der Stelle rühren, seine Beine fühlten sich an wie aus Blei. Auf einmal war die Tatsache, dass er ihn 'Junge' genannt hatte, gar nicht mehr so schlimm. Anton sah Nenan energisch den Kopf schütteln. "Verschwindet lieber, bevor unsere Wachen auftauchen!", rief Nenan laut.

Anton dachte angestrengt nach. "Die Feinde dürfen es nicht bekommen!", hallte Nenans Stimme in seinem Kopf nach. Da hatte er plötzlich eine Idee. "Okay.", sagte Anton. "Ihr wollt es? Dann holt es euch!", rief Anton und schleuderte das Glas aus mit voller Wucht aus dem Fenster. Eine Sekunde starrten ihn alle an und beobachteten, wie das Glas flog. Mit einem Rauchwölkchen verschwand der Orgale plötzlich. Nenan sah fassungslos zu Anton. "Was denn?", sagte der. "Die Feinde sollen es doch nicht bekommen." "Ja, aber so meinte ich das nicht!", rief der Heerführer gereizt. "Du kannst nur hoffen, dass das gut ausgegangen ist." Plötzlich hörten sie ein Brüllen, die Kämpfer des Orgalisten zogen sich augenblicklich zurück. Nenan sah zu Anton.

"Oh, verdammte-". Seine Worte wurden abgeschnitten. Das Dach des Thronsaals stürzte ein und riss alles darin mit sich. Anton spürte für eine Sekunde gar nichts mehr.

Als er die Augen wieder öffnete, stellte er fest, dass er noch lebte. Über sich am Himmel sah er den Drachen, der den Thronsaal zerfetzt hatte. "Geht es mir gut?", fragte er sich selbst. Er wusste es nicht recht. Plötzlich sah er einen Kopf mit blauen Augen und rotblonden Locken- Juliette. "Anton! Anton alles in Ordnung? Anton! Kannst du mich hören?" "Klar...", ächzte der Ritter. Er richtete sich auf, und merkte, dass er am zerstörten Hof lag. Kein Feind war in Sichtweite. "Juliette...Was ist passiert? Wo ist Nenan?" "Die Feinde haben sich zurückgezogen. Warum wollten wir eigentlich dich fragen. Weißt du, wo Lars ist?". Anton schüttelte den Kopf. Juliette sah schrecklich aus, als hätte sie in Blut gebadet. "Nenan!", rief er. Stille.

Es war plötzlich sehr still.

Anton stand auf, dann ging er mit langsamen Schritten auf die Suche nach seinem besten Freund. erst jetzt bemerkte er, dass er am Bein eine Verletzung hatte, aber das hinderte ihn nicht daran, weiter nach Nenan zu suchen. Irgendwann humpelte er nur noch herum. Als er aufblickte, dass er, dass er hier das Glas hinab geworfen haben musste. Er sah sich um, vielleicht lag es ja da herum.

Außer den Schreien der Verwundeten, egal ob körperliche oder seelische Wunden, konnte man kaum etwas hören. Für Gespräche war die Laune zu miserabel, nur das Nötigste wurde gesagt.

Plötzlich bemerkte er. Einen Mann, der im Geröll von Thronsaal herum lag. "Nenan!" Er bewegte sich nicht. Anton lief, so schnell er konnte auf ihn zu. "Nenan!" Er kniete sich hinab zu seinem Freund, fühlte den Puls, erstarrte.

Er lebte.

"Nenan, den Göttern sei Dank!", rief er. "Mir geht es gut, keine...keine Sorge.", murmelte Nenan. Freudig umarmte Anton ihn, dann half er ihm auf. Ein Schrei ertönte, laut und hell, Juliette. Anton humpelte, Nenan stützend, zu dem Ort, an dem sie den Schrei vernommen hatten. Juliette saß am Boden, die Augen weit geöffnet, die Hände vor dem Gesicht, und sie war nicht die einzige. Dutzende Ritter, Ritterinnen und Hofleute hatten sich hier versammelt. Als Nenan und Anton sich vorbei drängten, sahen sie auch, warum. Da war der König, oder besser gesagt, seine verbrannte Leiche. Anton hätte ihn nicht erkannt, wenn er nicht den Ring am Finger gehabt hätte. Er entdeckte Theyn, die ihr Stilett in den Boden gerammt und die Hände darüber gefaltet hatte. "Es ist meine Schuld", sagten ihre Augen, obwohl es das nicht war. Antons Schock war aber nicht von kurzer Dauer.

Die nächste bekannte Leiche, die sie fanden, war Eton, der zusammen mit Chana Juliettes engster Berater gewesen war. Chana saß neben ihm, den Blick in den Himmel gerichtet. Keine Träne benetzte ihre Wangen, aber irgendwann begann sie leise in einer fremden Sprache etwas zu sprechen, ein Gedicht, ein Abschied.

Danach kamen Oreni, Savannah, Lahnol.

Dann fanden sie endlich Lars.

Er hatte den Mund leicht geöffnet, ein Gerinne aus Blut rann daran herab. Sein blondes Haar war schmutzig, seine rosafarbene Haut fahl und von Asche verdreckt. Neben ihm knieten seine Frau und eine verbliebene Tochter, alles andere, jeden anderen hatten sie verloren. Die Heerführer setzten sich kurz zu ihm, sprachen der Familie ihr Beileid aus und ließen sie dann alleine. Jeder würde für sich trauern.

Ein Stück dahinter sah Anton auf einmal ein Glitzern. Das beschissene Glas. Da lag es. Natürlich war es bei dem Fall zersplittert. Darum herum war eine Flüssigkeit ausgeronnen. Es verströmte einen bekannten Geruch...

"Das alles nur für ein verficktes Glas", sagte Nenan. "Was soll das heißen?", fragte Anton. Nenan seufzte und Anton ließ ihn sich auf einen Stein setzten. "Das ist der Grund für den ganzen Angriff, Anton. Nadine wusste das. Sie hat befürchtet, dass das passieren könnte. Sie hat ihren Vater gewarnt, mich auch, aber, nun ja. Du siehst ja, wie das ausgegangen ist." "Aber warum? Was ist das? Warum ist diese Pampe so wichtig?", fragte Anton aufgebracht. "Für die? Keine Ahnung. Experimente. In diesem Glas war das enthalten, was so manchen ihre Fähigkeiten gab. Und der, der diesen Angriff startete, übrigens keine Ahnung, wer das ist, wollte die auch. Nur da hat er nicht mit dir und deinem Wurf gerechnet."

"Welche Fähigkeiten?" Nenan seufzte erneut. "Die der Relyah", sagte da plötzlich Goliardon, der hinter einem Brocken aufgetaucht war. Wenigstens er hatte überlebt. "Was meinst du denn damit? Alles vernichtet! Alles zerstört! So gut wie alle Bewohner sind tot! Diese Stadt kann man nie mehr aufbauen!", rief Anton. "Und all das für beschissene Fähigkeiten, von Leuten, die ein Mythos sind?" "Für Macht tun viele schreckliche Dinge.", erklärte Goliardon. "Ach, ne! Das war eine rhetorische Frage! Warum, zu allen Idioten auf Lothoria, muss diese Scheiße uns alles wegnehmen?!". Antons Augen füllten sich mit Tränen. Sie sahen sich an. Jeder wusste, dass sie zu wenige Überlebende waren, dass sie die Burg niemals wieder aufbauen könnten, dass alles vernichtet war, wofür sie gekämpft hatten, dass alles wahr war, was Anton gesagt hatte.

Goliardon seufzte, dann sagte er: "Der Magnolienbaum stirbt. Sieh! Die Blätter werden braun und der Regen fällt. Das rote Banner über der goldenen Stadt und schwarz färbt sich Holorons Rachefeldzug. Weiche, Licht, sagt die Finsternis, und das Licht tut wie gewollt, denn es kennt die Rebellion nicht mehr."

"Da haben wir das Schlamassel. Damit hat es seinen Lauf genommen.", sagte Nenan trostlos.

"Wir haben verloren. Wir haben alles verloren.", sagte Anton und blickte zu dem Glas mit der ausgeronnenen, schwarzen Flüssigkeit. Jetzt wusste er war es war.

Schwarzes Blut.

ENDE DES ZWEITEN TEILS.

Lothoria: Schwarzes BlutWo Geschichten leben. Entdecke jetzt