Kapitel 35

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Juliette Kerz

Juliette dachte gar nicht daran, weiter über Justin nachzudenken, als sie gegenüber von Goliardon stand und mit ihm sprach. Nein, die Freude würde sie ihm nicht tun. Allerdings... Allerdings war es schwer, nicht über ihn nachzudenken. Es war natürlich nicht ihr erster Kuss gewesen, nein, immerhin sie war zweiunddreißig Jahre alt, hübsch und abenteuerlustig.

Sie hatte tatsächlich mehrere Beziehungen in ihrem Leben gehabt, aber kaum etwas ernstes. Ja, einmal da war sie halsüberkopf verliebt gewesen und hatte sogar fast ihren Job für diesen Mann aufgegeben. Aber es war vorüber. Es war sicher ihre ernsteste und längste Romanze gewesen, aber wie gesagt: es war vorüber. Natürlich hatte das nichts mit Justin zu tun. Und obwohl sie sich vorstellen konnte, dass eine Beziehung zu einem gleichrangigen Mitarbeiter aufregend sein könnte, war ihr Kuss nicht anderes als jeder andere auch gewesen. Oder? 

Juliette kaute auf ihrer Lippe. Sie konnte Goliardons Worten kaum folgen, als er mit ihr da so sprach. Sie waren nach draußen, hinter das Zelt gegangen, dort, wo die Wiese sonnenbeschienen und trocken war - selten in Zeiten wie diesen. Der Herbst war noch nie sonderlich bescheiden mit Regen und Tau gewesen, im Gegenteil. Manchmal hatten sie mit Überschwemmungen kämpfen müssen. Vielleicht war auch eben wegen der Feuchte Mortis und die Umgebung des Reiches ein beliebter Ort bei Schnecken. 

Die Heerführerin atmete tief ein - wie war sie jetzt auf Schnecken gekommen? So verwirrt war sie also schon... 

"Und darum würde ich sagen, dass es unklug wäre, hier zu überwintern", schloss Goliardon seine Rede, von der Juliette original den ersten und letzten Satz mitbekommen hatte. Sichtlich verwirrt sah sie den Mann vor ihr an. Sein dunkles Haar war lockiger als sonst, wahrscheinlich wegen dem Regen. Im Gegensatz zu Juliette schien er relativ gut aufgelegt zu sein, denn er strahlte sie freundlich an, geduldig auf ihre - oder zumindest eine - Antwort wartend. 

"Äh...", begann Juliette. "Klar", sagte sie langgezogen. "Ich werde das mit..." "...mit Justin besprechen", wollte sie schon fast sagen, hielt sich aber im letzten Moment zurück, bevor ihre Gedanken wieder zu dem Heerführer springen würden. "...mit Nenan klären. Sobald er wieder zurück ist", sagte sie schließlich, als sie eine bessere Fortsetzung für ihren Satz gefunden hatte. Goliardon runzelte die Stirn. "Verzeiht, aber dafür ist es wahrscheinlich schon zu spät. Ich... Ich glaube nicht, dass Heerführer Trolot bald wieder zurück kommt. Und ich denke, Ihr glaubt das auch nicht." Nein, tatsächlich wusste Juliette nicht, ob und wann Nenan kommen würde. Denn sie war sich nicht einmal sicher, wie sie Mortis' Leute beschützen sollte, geschweige denn, wie sie Nenans verbliebene Truppen einsetzen sollte und konnte. Nenan agierte anders als sie, er war defensiver und vertraute meistens auf seinen Verstand - auch wenn er in dummen Situationen sehr gerne einen plötzlichen beherzten und geisteskranken Gedanken hatte, der den aktuellen Konflikt anscheinend bessern, oder gar auflösen sollte. Juliette sah zwei Optionen: Gewinnen und Verlieren. Und nur Gewinnen war in Ordnung für sie. 

"Goliardon, es ist schön, dass du deine Gedanken mit mir teilst - immerhin hast du das ja auch für Prinzessin Nadine und den Rest der königlichen Familie gemacht. Ich schätze deinen Rat. Aber ich kann keine wichtigen Entscheidungen aufgrund deiner Empfehlung treffen, schon gar nicht, wenn ein Heerführer fehlt, oder ich nicht das Einverständnis von mindestens dem Großteil der Anführer habe. Das verstehst du sicher doch. Es muss alles seine Richtigkeit haben." Goliardon blickte zu ihr hoch. "Ich weiß, Frau Kerz, aber wenn Ihr jetzt nichts unternehmt, dann werden wir keine Zeit mehr haben. Ihr solltet mit Heerführer Hendoras sprechen und euch abspre-" "Ich werde selbst entscheiden, was ich tue, Goliardon. Und wir werden diesen Ort nicht verlassen. Wo würdest du denn hinwollen? Wir haben gar nichts anderes mehr!" Juliette legte den Kopf schief, um den Mann vor ihr besser betrachten zu können. "Wir haben alles verloren, oder soll ich dir noch einmal unsere Verluste in den Kopf rufen?" "Nein...", murmelte er. "Gut. Ich werde deinen Rat im Hinterkopf behalten, aber jetzt habe ich wichtigere Dinge zu tun. Bis bald. Und falls dir noch etwas einfällt, das du sagen möchtest, kannst du ruhig kommen. Zuhören werde ich immer, aber das heißt nicht, dass ich genau das tun werde, was du vorschlägst." 

Goliardon seufzte, nickte aber. Er starrte zu Boden, seine Lippen waren aufeinander gepresst. 

"Er meint es erst. Das Thema liegt ihm wirklich auf dem Herzen", dachte Juliette und fühlte sich fast schon ein wenig schuldig, dass sie so auf ihn reagiert hatte. Nun, jetzt konnte sie auch nichts mehr daran ändern. Es wurde Zeit, dass sie sich wirklich um die wichtigen Dinge kümmerte. Sie schenkte dem Seher ein schmales Lächeln, dann ging sie und ließ ihn stehen. 

Goliardon blieb noch einige Minuten stehen. Irgendwann raufte er sich die Haare. Die Heerführer mussten einsehen, dass es hier in Mortis - oder was davon übrig war - nichts mehr gab. Sie mussten weg von hier, sie alle, bevor es zu spät war. Bevor sie keine Lebensmittel mehr hätten, oder der Regen ihre Zelte durchnässte und Lager wegspülte. Bevor der Himmel von grauen Wolken bedeckt wäre und die Erde ein einziger kalter Brocken sein würde. Bevor Schnee den Boden berühren und die Kälte sich in ihre Kleidung fressen würde. 

Bevor er zurück kommen würde. 

Lothoria: Schwarzes BlutWo Geschichten leben. Entdecke jetzt