Kapitel 40

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Juliette Kerz

Sie brachen in der Dämmerung am nächsten Morgen auf.

Juliette saß auf ihrem Hengst Raklagon, direkt neben Nenans zweiter Stute Lula. Lulas Zügel waren in Justins linker Hand. Er stand neben dem Pferd, während er auf sein zweites - Olympia - eine Tasche mit Vorräten schnallte. Olympia war ein prächtiges Tier, ein großer Wallach mit weichen Zügen und einem dunklen Fell.

Justin befestigte den letzten Gurt an den Taschen, dann sprang er auf Lula auf. Er sah zu Juliette, als warte er darauf, dass sie etwas sagen würde. Sie lächelte ihn schwach an, müde, aber zumindest war es ein Lächeln. Justin erwiderte es mit einem breiten Grinsen. "Wie geht es dir heute?", fragte er schließlich. Juliette nickte. "Gut", sagte sie und ließ ihren Blick nach vorne schweifen. Vor den beiden Heerführern hatte sich eine kurze Schlange an Personen und Pferden gebildet. Juliette wusste, dass hinter ihnen noch mehr Leute waren, denn schließlich würden Justin und Juliette die Reihen anführen. Es waren Ritter, Dorfbewohner, Kinder, alle, die bis vor kurzem noch in Mortis gelebt hatte. Doch heute müssten sie aufbrechen, weit weg, um ein neues Leben beginnen zu können. Goliardon und der Ritter Lethan waren hinter ihnen. Ersterer davon zappelte etwas unruhig hin und her. Der Seher war noch nie geritten.

Juliette wendete den Kopf nach hinten. Tatsächlich kannte sie nicht so viele von denen, die da ritten. Ihr Blick wurde aber schnell von jemandem erwidert, den Juliette eigentlich gar nicht sehen wollte - Lars Ehefrau. "Witwe", korrigierte sie sich selbst in Gedanken. Lars war tot. Tot, wie Prinzessin Nadine, wie König Herand, wie Savannah, wie Eton, wie Kassandra Vianda. Unwillkürlich schweiften ihre Gedanken zu der Heeresausbilderin. Ihr schwarzes, ergrauendes Haar, ihre schmalen, dunklen Augen, die blasse, milchige Haut. Sie war zwar streng mit Juliette gewesen, aber sie wusste, dass Kassandra große Stücke auf sie gehalten hatte. Nur Juliettes Temperament hatte sie hin und wieder gestutzt, wenn es wieder einmal mit ihr durch gegangen war. Sie bereute nicht, was sie getan hatte, eigentlich bereute Juliette kaum etwas in ihrem Leben. Sie hatte vieles genossen, sich auch mal genommen, was sie gewollt hatte. Natürlich war sie dabei immer vernünftig gewesen, aber trotzdem hatte sie sich in ihrer Jugend oft etwas anhören können. Obwohl... eine Sache gab es, die sie bereute. Bitter bereute. Und das, was sie am meisten daran erinnerte, sah sie gerade vor sich. Oder wohl eher, wen sie da gerade sah.

Lars Frau hatte ihre ganze übrig gebliebene Familie im Schlepptau - Lars Mutter, eines der beiden Hühner, die sie gehalten hatten und Lars Tochter. Juliette konnte nicht anders, als das Mädchen anzustarren. Sie sah aus wie er - langes, hellblondes Haar, dunkle Augen, eine rosafarbene Hautfarbe und dieselbe längliche Nase, die der Heerführer gehabt hatte. Juliette riss den Blick von dem Kind los, aber sie spürte, dass die Mutter der Kleinen sie ansah. Juliette begegnete ihrem Blick. Sie wusste, wie sie aussehen würde: die Stirn gerunzelt, die blauen Augen traurig und prüfend. Trotzdem versuchte sie die Frau anzulächeln. Wahrscheinlich war sie kläglich gescheitert und darum wunderte es sie, dass Lars Ehefrau - von der sie nicht mal den Namen wusste - ihr zunickte, die Lippen aufeinander gepresst. Sie war eine hübsche Frau, etwas jünger als Lars, also wahrscheinlich Mitte vierzig, langes, rötliches Haar und dunkle Augen. Juliette versuchte, ihre Gedanken davon abzubringen, Lars Gesicht vor sich zu projizieren, wie er nach Hause kam, jedes Mal nach getaner Arbeit. Doch dieses Mal war er nicht zurück gekehrt. Es gab ja nicht einmal mehr ein Haus, in das er zurück kommen könnte.

Juliette drehte den Kopf zurück, gerade in der Sekunde, in der Justin sie ansprach. "Hey, Julie", sprach er sie an. Sie sah zu ihm auf. "Ja?" Justin deutete nach hinten. "Wir sind alle fertig. Können wir?" Sie zögerte. "Sollten wir nicht doch noch auf Nenan warten?" Justin seufzte. "Na, jetzt ist es schon zu spät." "Es ist nie zu spät", kommentierte sie leise und sah zu Boden. "Julie... Können wir?", fragte er noch einmal, dieses Mal eindringlicher. Sie seufzte, dann sah sie hoch. "Gut. Wir können." Justin nickte, ein Lächeln auf seinen Lippen. Juliettes Blick blieb daran hängen und sie konnte nicht anders, als daran zu denken, wie sie sich in ihrem Zelt geküsst hatten, wie seine sanften, aber rauen Lippen auf ihren gelegen hatten...

Sie zwang sich, an etwas anderes zu denken.

Justin gab seinem Pferd Lula die Sporen und schon ritt der gesamte Zug den beiden Heerführern nach. Als Juliette sich erlaubte, noch einen Blick auf ihn zu werfen, sah sie, dass er noch immer lächelte. Wie als hätte er ihren Blick gespürt, sah er sie an, eine Augenbraue gehoben. "Was?" Sie sah ihn immer noch an und konnte sich ein kleines Lächeln ebenfalls nicht verkneifen. "Du lächelst immer noch", stellte sie fest. "Ja", entgegnete Justin. "Wie könnte ich auch nicht?" Die Heerführerin runzelte die Stirn. "Wie könntest du auch nicht? Ähm, ich weiß nicht, vielleicht, weil wir einfach alles hinter uns lassen und eine große Verantwortung tragen?" "Vielleicht, weil Lars tot ist...", fügte sie in Gedanken hinzu. Lars war immer ihr großes Vorbild gewesen, aber sie wusste, dass Justin oft Schwierigkeiten mit ihm gehabt hatte. Justin hatte auch oft in Schwierigkeiten gesteckt - öfter als Juliette, denn sie hatte das alles in ihrer Kindheit gelassen. Sie schluckte die Worte hinunter, die ihr auf der Zunge lagen.

"Nein, so... so habe ich das nicht gemeint...", murmelte Justin. Juliette versuchte, seinem Blick wieder zu begegnen, um zu verstehen, was er sagen wollte. "Ich... Ich habe das nicht so gemeint." "Sondern?", hakte sie nach. "Naja... Wie könnte ich denn nicht lächeln, wenn ich neben dir bin?" Juliette riss die Augen auf. Damit hatte sie sicherlich nicht gerechnet. Sie spürte, wie ihr Hitze in die Wangen stieg. "Sehr witzig", merkte sie scharf an. Justin lächelte immer noch breit. "Nein, Julie. Ich meine es wirklich so. Ich genieße deine Gesellschaft. Du... Du bist sehr... schön." Juliette wusste gar nicht, dass sie ihre Augen noch weiter aufreißen konnte. Sie war sicherlich schon knallrot. "Du bist ein hoffnungsloser Romantiker", meinte sie, aber sie lächelte. "Du machst mich zu einem", entgegnete Justin. Juliette schüttelte den Kopf. "Aber tatsächlich war das nicht der Grund, warum ich lächle." "Sondern?", fragte sie noch einmal. Justin grinste nur noch breiter, dann sagte er: "Du lässt mich dich endlich Julie nennen."

Juliette schüttelte nur nochmal den Kopf, aber ihr wurde auf einmal ganz warm.

Lothoria: Schwarzes BlutWo Geschichten leben. Entdecke jetzt