Kapitel 45

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Justin Hendoras

Die Brücke war länger als in Justins Erinnerungen. Er war nie dort gewesen, hatte aber die wildesten Geschichten darüber gehört. Es gab viele Gerüchte über die Brücke. Justin hatte wahrscheinlich jedes davon schon mindestens fünf Mal gehört. Es gab viele, in denen Hexen oder heimsuchende Geister vorkamen, Versionen mit Trollen, mit Halluzinationen und Wahnsinnigen, die niemanden vorbei lassen würden. Aber die Fakten sahen anders aus: Die Brücke war gebaut worden, um problemlos Güter über den Langen See zu bringen, ohne einen zeitraubenden Umweg um den ganzen See herum machen zu müssen.

Um es zusammen zu fassen: Justin hatte kein ungutes Gefühl bei der Brücke. Anders als Juliette, die unruhig auf Raklagon hin und her rutschte. Sie schien die Brücke wie ihren Todfeind zu hassen. Justin nahm es ihr nicht übel. Juliette konnte sich im Grunde mit gar nichts anfreunden, was ihren deine Spur von Magie beinhaltete. Allerdings hieß es, dass in allem eine Spur Magie war, aber das schien Juliette entweder nicht zu interessieren, oder sie ignorierte es gekonnt.

Justin trieb Jula etwas weiter voran, damit er auf Augenhöhe mit Juliette war. Sie sah ihn nicht an, sondern den steinernen Übergang, die einige Meter vor ihnen begann. "Alles klar?", fragte Justin. In seinem Blick war ehrliche Besorgnis. Juliette nickte, sah ihn aber immer noch nicht an. "Ja." "Dann bist du bereit?" Sie nickte wieder, dann setzte sie Raklagon entschlossen auf den Stein der Brücke an.

Die Hufe des schwarzen Hengsts erzitterten, aber er machte standhaft, was seine Herrin ihm befahl - immer weiter. Die Pferde blieben ruhig, und zumindest das erleichterte Justin. Immerhin witterten sie noch keine Gefahr. Sie trieben ihre Pferde weiter an, und schon fast dachte Justin, dass alle Gerüchte über die lange Brücke falsch und erfunden waren. Er sah zu Juliette, die angespannt weiter ritt, ihr Rücken gerade, aber ihre Hände umklammerte die Zügel fest, sodass ihre Knöchel weiß hervor traten. Justin wusste, dass aufmunternde Worte sie nur nervöser machen würden, also blieb er bei seiner besorgten Miene und drehte seinen Kopf nach hinten.

Hinter den beiden Heerführern war die lange Schlange aus Dorfbewohnern und Soldaten und natürlich auch Goliardon, der dicht hinter Justin ritt, neben Lethan, dem Ritter, der das Lager stets in Ordnung gehalten und kontrolliert hatte. Der Seher zeigte ihm gerade ein violett-weißes Kartendeck, worauf viele verschiedene Kreaturen abgebildet waren. "Was ist das?", fragte Justin und sah den kleinen Mann fragend an. Goliardon gewährte ihm ein breites Lächeln, wie er es stets jedem schenkte. "Das sind alte Karten, von einem Kartenlegset. Man kann damit die Zukunft erahnen. Nun, wenn man zumindest daran glaubt." Justin nickte, und er wusste, das der letzte Satz eher an Juliette gerichtet war. Lethan legte ehrfürchtig den Kopf in die Richtung der Karten. Der Seher und er begannen eine Diskussion darüber, für welches Lebewesen sie welche Eigenschaft zuordnen würden, aber das war Justin ein zu trockenes Thema, darum drehte er sich um.

Plötzlich brach direkt vor ihm ein großer Stein weg. Justin bremste Jula, zog sie in eine andere Richtung, weg von dem ausgebrochenen Stein und dem klaffenden Loch darunter. Er stieß mit Juliette und Raklagon zusammen. "Woah, pass doch auf!", rief sie und zog an den Zügeln ihres Pferds. "Was soll das denn?" Justin hob den Kopf, der an ihre Schulter gekracht war. "Tut mir leid, aber da war ein verdammtes Loch in der Brücke! Ich habe es zu spät bemerkt." Er sah sie an. Ihr Gesicht war nahe an seinem. So nahe, dass er die Verwirrung in ihren Augen sehen konnte. "Was redest du denn da?", fragte sie. "Ich sehe da nirgendwo ein Loch." Justin drehte sich um - und tatsächlich. Es war fort, als wäre es niemals da gewesen. "W...Was? Aber... Aber es war doch genau da...?" Juliette runzelte die Stirn, dann schüttelte die den Kopf und trieb Raklagon weiter an. Justin runzelte ebenfalls die Stirn. Was für ein merkwürdiges Ereignis.

Er ritt Juliette nach. Im Boden vor ihnen waren weitere Löcher, aber klein genug, um sie ordentlich umrunden zu können. Justin blickte in eines hinein, als er vorbei ritt. Endlose Schwärze schien ihm unverwandt entgegen zu blicken. Er rümpfte die Nase, drehte sich zu Juliette und erstarrte. Sie war mit Raklagon stehen geblieben, ihr Kopf ihm zu gedreht. Doch Raklagons Hufe schwebten - schwebten - über dem Erdboden, als würde er nicht gerade auf einem klaffenden Loch stehen, das aus der Brücke heraus gebrochen war. Ihm fiel die Kinnlade herunter, dann sah er zu Juliette hoch. Sie spiegelte seinen Ausdruck, ihr Blick lag verstört auf dem Boden unter Justins eigenem Pferd. Ihr Blick traf seinen, dann sah sie noch einmal zu Raklagons Hufen. "Stehe... Stehe ich etwa auch gerade im... Nichts?" Justin nickte.

Schreie und Rufe rissen die beiden Heerführer aus ihrer Starre. Die Menge hinter ihnen schien in Panik zu verfallen. Justin tauschte einen Blick mit Juliette, dann rief er so laut er konnte: "Keine Sorge, ihr seid nicht verrückt! Die Brücke spielt und einen Streich. Es ist Magie! In Wirklichkeit ist die Brücke unberührt und sicher! Ignoriert die verdammten Löcher!" Er drehte sich wieder zu Juliette. "So ein verdammter Mist", fluchte er leise und ritt weiter. Die Menge schien sich zu beruhigen, aber Justin wusste nicht, ob er es gut heißen sollte, dass sie jetzt alle schwiegen.

Sie ritten weiter. Irgendwann wandte sich der Heerführer noch einmal zu Goliardon nach hinten. "Hey, Goli." Goliardon sah zu ihm und wollte etwas sagen, aber Justin schnitt ihm das Wort ab. "Was weißt du üb-" Aber auch Justin würde unterbrochen, nämlich von Lethans Schrei. Der Blick auf den Ritter ließ Justins Blut in den Adern gefrieren. Er war in einem Loch, aber dieses Mal schien es real zu sein. Sein Pferd hatte gerade och bremsen können, aber war mit einem Fuß in den Abgrund gerutscht. Lethan war hinab gestürzt, hielt sich mit einer Hand am Zügel, mit der anderen am Hals des Pferdes fest. Geistesgegenwärtig stürzte sich Justin von Jula und schnappte sich Lethans Arm. Lethan umklammerte seine Hand, dann zog Justin ihn hoch, doch Lethans Fuß hatte sich im Steigbügel verheddert. Justin sah zu Goliardon, doch der war wie erstarrt. "Goliardon! Hilf ihm da raus, ich kann ihn nicht mehr lange halten!" Er fühlte, wie Lethans feuchte Hand seinem Griff entglitt. Doch Goliardon rührte sich nicht. Trotzdem löste sich Lethans Fuß vom Steigbügel und Justin konnte ihn endlich aus der Gefahrenzone ziehen.

Sie landeten beide auf dem Boden, schwer atmend. Juliette war da gewesen und hatte Lethans Fuß befreit und ihnen somit beide das Leben gerettet. Denn Justin hätte nicht los gelassen, und wäre gemeinsam mit Lethan in das tiefe dunkle Loch gestürzt.

Justin wechselte einen Blick mit Juliette. "Es sind auch echte Löcher da", murmelte sie. Justin seufzte. "Wird wohl doch nicht so leicht..."

Lothoria: Schwarzes BlutWo Geschichten leben. Entdecke jetzt