Kapitel 6

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Lars

"Velo! Savanna! Zurück! Zurückziehen!", brüllte Lars. Seine Stimme war schon heiser, seine kurzen, hellbraunen Haare klebten an seinem Gesicht, nass vor kaltem und heißem Schweiß. Sie waren sofort mindestens bis zur Hälfte überrannt worden, wenn nicht sogar mehr. Lars hatte Probleme gehabt seine Leute zu kontrollieren, einige hatten die Flucht ergriffen. Gerade preschte die Gruppe mehr oder weniger über die steppenartige Landschaft. Die Sonne brannte über dem Himmel, der heute noch mehr bewölkt war, als am gestrigen Tag. Die Schar ritt an ein paar Laubbäumen vorbei, deren Blätter sich schon im frühen Herbst dunkelrot gefärbt hatten.

"Sir Prence!", rief Savanna, eine große, kräftige Frau mit grünlichem Haar.

Ihr Pferd hatte sie im Getümmel verloren, darum musste sie neben Lars herlaufen. "Sir Prence! Was sollen wir tun? Es sind zu viele, aber wir werden kämpfen, nicht wahr?" Entschlossen reckte sie ihren Schwertarm, den Linken, in die Luft.

"Ich sagte doch zurück, Savanna!". Savanna sah ihn verständnislos an. "Aber wir-". "Sir Prence! Sir Prence, seht!", schrie Sir Marlo, einer der vernünftigeren Ritter. Lars drehte sein Pferd, Siegesstolz, einen weiß-gefleckten Hengst, zur Seite.

Am Horizont konnte er eine schwarze Linie aus Schatten sehen. Ihre Feinde waren ihnen gefolgt. "Marlo, blase den Rückzug an!". Marlo nahm das Horn an seinem Gürtel und pustete kräftig hinein. Ein schallender, tiefer Laut tönte daraus und die Gruppe versetzte sich hektisch in Alarmbereitschaft. Lars brüllte: "Rückzug nach Mortis! Haltet Ausschau nach Sir Hendoras!"

Mit diesen Worten wendete er Siegesstolz und ritt voraus. Das übrig gebliebene Heer trabte den träge nach. "Sie holen auf!", rief Velo, ein weiterer Ritter. "Dann reite schneller, Dummkopf!", brüllte ihn Marlo an. Er drehte sich um. "Jetzt merke ich es auch.", meinte er. "Worauf reiten die denn? Sie sind schnell!". „Dann lauft!", rief jetzt auch Lars.

Die Gruppe aus Rittern und einfachen Fußsoldaten bewegte sich in einer dicken Staubwolke voran. Die Pferde wirbelten mehr Dreck und Staub auf, als Lars es je gesehen hatte, und sie ritten auch schneller als sonst. Der Grund dafür war offensichtlich: in der Geschichte Mortis war das verhältnismäßig friedliche Königreich erst zweimal angegriffen worden.

Einmal von Melod, die weiter östlich lag, und ein anderes Mal von Ligas. Mit Melod hatten sie nach zwei Monaten Krieg Frieden schließen wollen, nachdem die Burg Mortis erst belagert, danach eingenommen hatte. Melod hatte sich allerdings zurückgezogen, weil die wütenden Leute aus dem nahegelegenen Dorf gedroht hatten, alle Handelsrouten mit der Burg zu schließen, sollten sie Mortis nicht freigeben. Es war Lars ein Rätsel gewesen, warum die Dorfbewohner sich für Mortis eingesetzt hatten, doch dann hatte Justin ihm erzählt, dass das Königreich das Dorf vor Räubern und Weinbergschnecken beschützen würde. Lars war sich bis heute noch nicht sicher, ob Letzteres ein Scherz von Justin gewesen war, oder es tatsächlich der Wahrheit entsprach. Eher waren die roten Schnecken ein Problem im nordöstlichen Teil Lothorias.

Lars' Gedankenschwall wurde von einem Schrei unterbrochen. Der Heerführer wollte nicht sehen, wie seine Gefährten fielen, fielen wie vor vielen Jahren zuvor, in den Schlachten, die sie schon zusammen schlugen.

"Weiter!", brüllte Lars, seine Stimme war heiser. "Schneller, das können wir schaffen!". Lars wusste, dass sie es nicht schaffen konnten. Nicht nur er, sondern alle seine treuen Gefährten mit ihm, müssten, nein, werden alles aufgeben müssen. Es gab kaum Hoffnung für seine Gruppe. Seine Familie würde alleine sein. Seine Frau, seine kleine Tochter, seine kranke Mutter und die beiden Hühner. Er würde sie nicht mehr retten können.

Er hatte versagt.

Aber er würde nicht versagen ohne ein paar von diesen Mistviechern mitzunehmen.

Nicht aufgeben. Niemals. Selbst nicht, wenn alles verloren schien, wofür es sich zu kämpfen lohnte.

Lars verzog das Gesicht. Er machte sich keine Mühe, seine Tränen fortzuwischen, es würden ohnehin noch mehr fließen. Der Heerführer hatte einen Entschluss gefasst. Er zügelte Siegesstolz. Das Pferd sträubte sich anfangs, dann vertraute es Lars doch und drehte sich unschlüssig um.

"Meine Freunde! Hört zu! Ich weiß... Ich weiß es ist schwer. Alles zurückzulassen. Aber wir haben keine... keine andere Option in der es ein anderes Ende gibt. Nicht für uns. Sie sind schneller als wir, viel schneller und bis nach Mortis sind es noch einige Meilen. Aber wir werden nicht aufgeben. Niemals! Denn wenn wir uns schon opfern müssen, dann nicht aus Rache, nicht aus Angst. Sondern für unsere Familien. Freunde. Für Frieden. Für Mortis! Und diese Bestien...", Lars Prence machte eine Pause. "Nehmen wir mit."

Er schob sich eine Haarsträhne hinter seine Ohr, dann zog er sein Schwert aus der Scheide und reckte es in die Luft, zu den grauen Wolken, als wollte er die Sterne ein letztes Mal berühren, wie unzählige Male zuvor.

Marlo sah unentschlossen aus. "Aber wir können nicht... Ich kann nicht." "Es ist dir überlassen. Aber ich sehe ein, man kann der Zukunft nicht entkommen. Du kannst versuchen zu fliehen. Aber es wird erfolglos sein. Sollte jemand von uns jemals zurück nach Mortis gelangen, dann nicht lebendig."

Savanna stand plötzlich neben Lars. "Ich kämpfe. Und wenn es das Letzte ist, was ich für Mortis tue". Lars nickte. Ausnahmsweise war ihr Enthusiasmus einmal nützlich. Die Gruppe hatte sich gespalten. Einige wollten umkehren, die Anderen kämpfen.

"Es ist uns nur ein Teil von ihnen gefolgt und außerdem führen sie direkt nach Mortis zurück, ein Frontangriff und wir sind erledigt. Mal abgesehen davon, sind wir sowieso dahin.", argumentierte einer. "Darum haben wir keine Wahl. Wenn die Götter es so wollen... Wenn das Schicksal es so will..."

"Dann ist das Schicksal heute wohl gut gelaunt, Lars Prence!", sagte eine allzu bekannte Stimme.

Lars hatte schon immer gewusst, dass der Sprecher immer für Überraschungen zu haben war, fast alle Gespräche mit guter Laune zu füllen wusste und vor allem, ständig zu spät war. Aber in dieser Situation hatte er absolut nicht mit ihm gerechnet. Der Held des Tages lächelte ihn vor seinem Heer schief an. Lars wusste nicht, ob er ihm eine pfeffern, oder sich auf Knien bedanken sollte.

Justin Hendoras nahm ihm die Entscheidung ab.

"Was hast du vor gehabt? Wolltest du es etwa alleine mit denen aufnehmen?". Lars starrte ihn mit offenem Mund an.
"Soll das ein Witz sein?!", fragte er. Ein Ritter mit langen braunen Haaren neben Justin sagte: "Vielleicht wollte er alle retten und der Held von Mortis sein." "Das habe ich ihm ja schon abgenommen, nicht wahr Lars?". Justin lächelte. Lars' Gesichtsausdruck verriet das Gegenteil.

"Du bist das mit Abstand unnötigste Individuum, dem ich je begegnet bin.", sagte Lars. "Ich hab euch gerade alle gerettet.", meinte Justin etwas beleidigt. "Noch nicht.". Lars wendete Siegesstolz erneut. "Gruppe!", brüllte er. "Heerführer Hendoras gibt uns Deckung! Wir sind nicht alleine."

Schneller als zuvor wendete sich das verbliebene Heer und preschte los. "Au revoir, Justin." Lars funkelte ihn an und ritt seinen Leuten hinterher. "Lars? Seit wann sprichst du eine andere Sprache? Jetzt warte doch mal!", rief Justin ihm hinterher.

Der Angesprochene seufzte und blieb stehen. Justins Stute blieb neben Siegesstolz im Trab. "Denkst du tatsächlich... Ich meine, sind wir nicht etwas zu wenig?". „Ich weiß es nicht." Still ritten sie nebeneinander her. Die Staubwolke aus Feinden vor ihnen kam näher. "Was soll's", flüsterte Justin, aber er sog die Luft ein.

Lars und Justin blieben nach einer Weile stehen, das Heer hinter ihnen auch. Soweit Lars das beurteilen konnte, waren sie jetzt ausgeglichen- Ihre Feinde hatten genauso viele Truppen wie sie. Aber wie gut waren die Kämpfer? "Wir schaffen das.", sagte Justin. "Darauf würde ich nicht wetten!", fauchte Lars. "Angriff!".

Lothoria: Schwarzes BlutWo Geschichten leben. Entdecke jetzt