Interludium 4

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Die Zwillinge Erden und Eada waren schon seit ungefähr zwei Wochen fort.

Zuerst sind sie gen Norden gereist. Es gibt da jemanden, mit dem sie sich treffen mussten. Doch mehr haben die beiden nicht gesagt. Mehr weiß ihre Familie nicht, vielleicht auch sie selbst nicht. Erden schien auch nicht sonderlich in Klaren darüber zu sein, wohin seine Schwester ihn bringen will. Eada hat anscheinend ganz eigenen Pläne für ihre Reise.

Leva, die Schwester der Zwillinge, ist gerade mit dem blauhaarigem Mädchen draußen. Sie gehen gemeinsam durch den Titanenwald, der an das Dorf angrenzt, in dem sie leben. Der Wald heißt aus offensichtlichen Gründen so, denn er ist riesig - und riesig ist nicht nur der Wald, sondern auch die Bäume. Um die zwanzig Meter ragen sie über dem Erdboden auf. So groß, wie die Titanen, von denen man sich in dieser Gegend erzählt. Allerdings hat man sie schon seit Jahrhunderten nicht mehr hier gesehen - geschweige denn irgendwo in Lothoria.

Das Mädchen mit dem blauem Haar fröstelt. Der kalte Wind ist wie ein eiskalter Schauder, der einem über dem Rücken läuft, wenn einem etwas zu gruselig ist, nur, dass dieser Schauder einen so lange begleitet, bis man im Schutz des warmen Hauses einen heißen Tee trinkt. Ein aufgeregter Vogel fliegt vorbei und zwitschert ein frohes Lied, als er sich auf einem Baum neben den beiden niederlässt. Frierend setzt Leva einen Fuß vor den anderen. Das Mädchen mit dem blauem Haar folgt ihr, still und wortlos. Sie gehen einen engen, getrampelten Weg entlang und versuchten dabei möglichst leise zu sein. Schließlich gibt es im Titanenwald allerhand teuflische Kreaturen, obwohl sie sich nie näher als eine halbe Meile an das Dorf im Wald trauen.

Das Mädchen blickt hinauf. Die riesenhaften Bäume über ihnen bilden ein dichtes, grünes Blätterdach, das selbst bei Regen keinen einzigem Tropfen Durchlass gewährte. Darum haben die Gründer des Dorfes diesen Platz ausgewählt - nicht einmal jemand über den Baumwipfeln könnte erraten, was sich darunter verbirgt. Sie sind sicher, vor Drachen, vor Greifen und natürlich vor menschlichen und magischen Bedrohungen, die von oben kamen. Und Schutz ist das Wichtigste, das worauf es in Tagen wie diesen ankommt. Kein Wunder also, dass die Bevölkerung des Dorfes ständig wächst. Und das, obwohl sie nicht gerne neue Bewohner empfängt - schließlich könnte jeder davon ein Verräter sein und den Standort des geheimen Dorfs im Wald für eine hohe Summe preisgeben. Doch noch ist es nicht geschehen, und es wird noch lange nicht sein.

Ja, das Blätterdach schützt sie, aber es sorgt auch dafür, dass keiin Sonnenstrahl den Boden berührt. Darum haben alle stets ein Licht dabei, wenn sie das sichere Dorf verlassen. Leva hält die Laterne höher an das Gesicht ihrer Begleiterin. Ihre natürlich schmalen Augen werden noch schmaler, wie als würden sie versuchen, Levas Gedanken zu erraten. Nein, nicht zu erraten, zu wissen. Müde schlendern die beiden den Pfad entlang. Ein Flüsschen plätschert in der Ferne, ein anderer Singvogel gesellt sich zu dem auf dem Ast, den die Mädchen hinter sich gelassen haben.

"Du weißt, du kannst mit mir reden", beginnt Leva und bricht somit das lange Schweigen. Die Blauhaarige nickt. "Ja", sagt sie nur wortkarg. Leva seufzt. "Ich meine, jetzt, wo Eada - und natürlich auch Erden - fort sind. Ich... Ich kann dir eine genauso gute Schwester sein, wie sie." Die andere nickt, starrt aber zu dem staubigen Boden, der seit Menschengedenken nie Wasser gesehen hat. Leva weiß nicht, was sie sonst noch sagen soll, darum sieht sie das jüngere Mädchen einfach nur an. Da fällt ihr ein: "Wir waren lange Zeit nicht für dich da, Süße. Aber jetzt sind wir da. Du... Du kannst mit mir reden. Wirklich." Das blauhaarige Mädchen nickt.

Es bleibt eine Zeit lang still, bis plötzlich das Mädchen mit dem blauen Haar spricht: "Vielleicht brauche ich aber keine Geschwister. Vielleicht brauche ich einfach... mehr." "Mehr was?", fragt Leva. Sie ist verwirrt, nicht nur, weil ihre Schwester endlich spricht, sondern auch, weil sie so etwas sagt. "Mehr", flüstert die Jüngere. "Mehr...was?" "Ich glaube, ich brauche mehr, das ich tun kann. Seit... Ich muss mehr tun." Leva bliebt stehen, dann nimmt sie die Kleine an den Schultern, so wie ihre Schwester Eada es immer gemacht hat, obwohl sie es gehasst hatte. "Hey. Das mit Wafe... Das mit Oma war nicht deine Schuld, Süße. Sie hat... Sie hat das getan, damit du lebst. Okay? Also fühl dich nicht schuldig." "Ich.... Ich fühle mich nicht schuldig. Und ich weiß das. Dass sei das für mich getan hat. Und das ist der Grund: Eben weil sie das gemacht hat, muss ich etwas tun, denn wenn ich nichts tue, dann -erst dann- ist Wafe umsonst gestorben."

Leva sieht sie erstaunt an. Sie hat das nicht von ihrer Gegenüber erwartet, aber sie muss ihr Recht geben. Stolz erfüllt sie, denn genau das hätte sie selbst wahrscheinlich auch gesagt. Und Wafe. Wafe hätte es auch gesagt. "Oma Wafe... Wafe wäre stolz auf dich", murmelt Leva und nickt. Das Mädchen mit dem blauem Haar erwidert ihren Blick, stolz und entschlossen, mit dem gleichen Feuer, wie das, dass in den Augen ihrer Großmutter gebrannt hat. "Ich weiß", entgegnet sie. Leva lächelt, denn obwohl das Mädchen noch jung ist, ist sie schon die Hoffnung eines ganzen Landes. Weit mehr, als das. Hoffnung für ganz Lothoria. Möge sie überdauern.


Ende des vierten Teils

Lothoria: Schwarzes BlutWo Geschichten leben. Entdecke jetzt