Kapitel 20

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Nenan

Schwarzes Blut inmitten von goldenem Regen, der alles umfängt...

Sehet, der Magnolienbaum stirbt!

Nadine Magnolienblüte fällt auf die Knie, das Leben weicht aus ihren Augen.

Tod, Tod, Tod und Blut, Tod, Blut und der Ogalist, Anton, Antons Kopf, nein, Lars. Nadine mit einem Bierkrug, Nadine in einem Kleid, Nadine mit einem Lächeln.

Nadine mit einem Loch in der Brust und schwarzes Blut tropft heraus.

Schwarzes Blut, überall...

Wasche die Lüge rein, nur um die trostlose Wahrheit zu erfahren.

"Die Wahrheit", denkt Nenan. 

Er kann sich an nichts erinnern. Noch nicht. Erst, als er sie sieht, erst da beginnt sein Verstand wieder zu arbeiten. 

Ihr mausbraunes Haar ist offen, sie trägt ihre Rüstung über einem dottergelben Kleid, worauf stolz das Wappen von Mortis prangt, so als wollte es alle anschreien, dass das hier wahrer Stolz, dass das hier wahre Liebe für sein Land bedeutete. Wahre Opferung für seinen Idealismus.

Aber irgendwie kommt es Nenan vor, als würde an ihr etwas fehlen, als würde etwas nicht passen. Und tatsächlich: Graue Fäden lassen ihre rechte Hälfte verschwimmen. "Was ist mit ihr passiert?", fragt er sich.

Nenan sieht an sich hinab. Er sieht genau gleich aus, nur mit dem Unterschied, dass er plötzlich lächelt. Nadine sieht ihn an und erwidert das Lächeln.  "Nenan. Ich habe mich gefragt, wann wir uns wiedersehen", sagt sie. Nenan will etwas sagen, weiß aber nicht, was. Nadine geht auf ihn zu. Instinktiv umarmt er sie, und schon kann er auch ihre Arme um ihn herum spüren. 

Nenan hat keine romantischen Gefühle für Nadine, zumindest denkt er das. Woher soll man wissen, was Liebe ausmacht, wenn man nie geliebt hat? Er kennt nur eine Art von Liebe, nämlich die, die er auch für Anton empfindet, tiefe, wertvolle Freundschaft. Und bei der Prinzessin fühlt es sich genauso an, nur eben ein bisschen mehr. Nicht, dass er sie lieber als Anton gehabt hätte, nein, aber sie ist seine Seelenverwandte, sie versteht ihn ohne Worte. 

Nein, Nenan hat keine solchen Gefühle für sie, und trotzdem will er ein Leben lang in ihrer Umarmung bleiben. Nadine löst sich schließlich von ihm, auch, obwohl er sicher ist, dass sie sein leises Seufzen hört. 

"Wie geht es dir?", fragt er flüsternd. "Mit dir geht es mir gut", antwortet sie. "Was ist mit dir?" Nenan nickt einfach nur, Nadine versteht. Plötzlich wendet sie sich ab. "Hast du es geschafft?", fragt sie. Er hört, wie sie mit Tränen kämpft. "Was? Was ist los, Nadine? Gibt es ein Problem?" "Sag du es mir. Hast du es geschafft?" "Was denn?", fragt der Heerführer. Er ist ernsthaft verwirrt. Nadine dreht sich immer noch nicht zu ihm um.  

"Mortis", haucht sie. 

Mortis. Die Schlacht. Plötzlich fängt Nenan an, sich langsam zu erinnern, was passiert ist. Der Angriff, die Prophezeiung, Nadines...

Nein. 

"Bin ich tot?", fragt Nenan. "Nein.", antwortet sie. "Nein, ich glaube nicht." "Glauben ist gut. Wissen ist besser.", zitierte Nenan Nadines Vater. 

"Aber du... du bist tot." "Wahrscheinlich. Ja. Nein. Irgendwie schon, aber irgendwie auch nicht.", entgegnet Nadine. Ihre Stimme ist abwesend. "Hast du es nun geschafft, oder nicht?" "Was?" "Mortis zu retten. Vor der Dunkelheit. Vor der Vernichtung." Nenans Erinnerungen zischen an seinem geisteigen Auge vorbei. Der Orgalist, der Drache, Lars, Juliette... das Blut des Feindes. 

"Nein." Nenan hört sich merkwürdig an. "Nein, Nadine. Ich habe versagt. Und es tut mir unendlich leid", gibt er zu. 

Die Prinzessin bewegt sich keinen Millimeter. Nenan ist sich nicht einmal sicher, ob sie überhaupt atmet. Muss sie überhaupt noch atmen?

Nach einer halben Ewigkeit sagt sie endlich etwas: "Dann werde ich für immer hier festsitzen." "Was? Was meinst du damit?" Nadines Antwort ist anders, als er erwartet hätte. "Wasche die Lüge rein." "Nur um die trostlose Wahrheit zu offenbaren", fügt er hinzu. "Ja", meint Nadine. 

Die Wahrheit. Die Wahrheit war, dass Nadine tot war, und dass er träumte. Oder halluzinierte. Oder tot war. Das war die Wahrheit. 

"Drehe dich um." 

Keine Reaktion. 

"Dreh dich um, Nadine!"

"Versprich mir, mich zu erlösen, Nenan, Bitte." Nenan hört ihr Schluchzen. 

Dann dreht sie sich um und Nenan erwacht.

Anton

Eine Woche war seit der letzten, der ultimativen Schlacht vergangen. Sie hatten die meiste Zeit versucht, aus den unbrauchbaren Ruinen der Burg nützliche Dinge zu retten, Lebensmittel zu besorgen, oder die Verwundeten zu heilen. Natürlich wirkten ihre Methoden nicht bei allem, und so verloren sie nur noch mehr Leute. Ihre Situation war brenzlig.

Mit beinahe gar nichts mussten sie die insgesamt hundertachtundzwanzig Personen versorgen und beschützen. Anton hatte die letzten paar Tage Nenan geholfen, das Volk in ihrem provisorischen Lager zu schützen, es gab da draußen allerhand kuriose Spezies und furchteinflößende Monster. Erst gestern hatten sie ihr Stück Land vor einem Greifenpaar verteidigen müssen, die wahrscheinlich auf der Suche nach Futter für ihre Jungen gewesen waren. Laut Goliardon hatten sie gerade Wurfzeit.

Anton hatte erkannt, dass er sich gut mit dem Seher verstand, besser als die Heerführer.

Juliette und Justin beispielsweise hatten sich freiwillig gemeldet, Essen zu besorgen, da sie Goliardon mit seiner 'gespielten Allwissenheit' nicht mehr ertragen konnten. Anton verübelte es ihnen nicht, aber er fand, dass man von ihm durchaus sehr viel lernen konnte. Er wusste vieles und Anton hatte mit ihm einiges geredet, während sie versucht hatten, die Sachen des Sehers zu finden und aus den Trümmern zu befreien. Dasselbe taten sie gerade immer noch.

"Und wo ist das?", fragte Anton. "Das müsstest du aber wissen! Es ist eine der größten Schulen für Adelige! Natürlich ist das in Aleria!" "Aleria! Davon habe ich natürlich gehört!" "Lass mich raten", sagte Goliardon belustigt und etwas traurig zugleich. "Du hast nur von den Zwillingsprinzessinnen gehört." Anton biss sich in die Lippe. "Nein", log er. "Die haben übrigens beide den Nachwuchs von Niersbach geheiratet. Die Ältere den König. Den kennst du aber, nicht wahr?" "Klar! Jan Hell, der Träger des berühmten Diamantenschwerts! Wer kennt den nicht?", sagte Anton laut und fuchtelte dabei mit seiner Hand herum.

"Ah! Sieh mal, was ich gefunden habe! Ausgerechnet!", hörte er da Goliardon rufen. Der Ritter hüpfte über einen Felsen, der aussah, wie eine ehemalige Mauer von seinem Zimmer, und entdeckte den Seher, der mit dem Rücken zu ihm stand. Sein Kopf war gebeugt über etwas, was Anton nicht  sehen konnte.

Plötzlich hörte er laute Rufe. Auf einmal sah er Nenan aus einem improvisieren Zelt laufen, schweißgebadet und abwechselnd Antons Namen und unverständliche Ausrufe brüllen. Er sah aus, als hätte er gerade einen Geist gesehen.

"Nenan!", rief Anton ihm entgegen. "Was ist passiert?" Fast befürchtete, dass ihre Feinde nun doch zurückgekehrt waren, um sie alle auszulöschen. "Anton! Nadine! Ich habe Nadine gesehen! Sie war da in meinem Traum! Aber es war vielleicht gar kein Traum!", rief er aufgebracht. So hatte Anton seinen Freund noch nie erlebt. "Okay, atme erst mal. Und dann erklär' es mir nochmal auf Lorianisch."

Von Nenans Lärm aufmerksam gemacht worden, drehte Goliardon sich zu ihnen um. "Was? Was ist passiert?" "Ich habe sie gesehen, direkt vor mir und sie fragte mich, was mit Mortis wäre!" "Wer?" "Na, Nadine!" Goliardon schloss für einen kurzen Moment die Augen. "Wusste ich es doch... Ich habe es mir fast gedacht..." "Was denn?", fragte Anton. "Was hast du dir gedacht?"

"Das Schicksal ist nicht aufzuhalten", murmelte der Seher leise und hielt seine Hand hoch.

Darin war das Pergament mit der Prophezeiung.

Anton und Nenan stöhnten beide gleichzeitig auf.

"Nicht schon wieder dieses verfluchte Stück Scheiße".

Lothoria: Schwarzes BlutWo Geschichten leben. Entdecke jetzt